155. Es ist kein „runder Geburtstag“, keines dieser klassischen Jubiläen. Und doch ist es eine ungewöhnliche Lebenszahl. Und eine besondere Zahl für die Lyrikerin und Übersetzerin Hedwig Lachmann, die lange in Krumbach-Hürben gelebt hat. Sie wird vor 155 Jahren geboren. In den gegenwärtigen Zeiten, die auch durch massive gesellschaftliche Veränderungen geprägt sind, wird ihr wechselvolles Leben, vor allem aber ihr Einsatz für den Frieden und das Miteinander der Menschen, mitunter bemerkenswert intensiv betrachtet. Unter anderem auch in einem Beitrag der Münchner Autorin Rita Steininger auf der Internetseite literaturportal-bayern.de.
Hedwig Lachmann wird am 29. August 1865 als Tochter des jüdischen Kantors Isaak Lachmann und dessen Frau Mina in Stolp/Pommern geboren. 1873 siedelt die Familie nach Hürben über, wo Isaak Lachmann die Stelle des jüdischen Kantors übernimmt. Hier wächst Hedwig Lachmann zusammen mit ihren vier Brüdern und ihrer Schwester auf.
Lebensstationen in Budapest und Berlin
Außerordentlich ist ihre Sprachbegabung. Bereits mit 15 Jahren legt sie in Augsburg ihr Examen als Sprachlehrerin ab. Weitere Lebensstationen sind Budapest und ab 1889 Berlin. Sie arbeitet als Hauslehrerin – und sie beginnt zu schreiben: Artikel für verschiedene Zeitungen, sie übersetzt Werke ausländischer Schriftsteller wie etwa Poe oder Wilde ins Deutsche.
1899 lernt sie den jüdischen Literaten Gustav Landauer (geboren 1870 in Karlsruhe) kennen, der einen intellektuell geprägten Anarchismus vertritt. 1901/1902 leben Hedwig Lachmann und Gustav Landauer in England, doch bald kehren die beiden nach Deutschland zurück. 1903 lässt sich Landauer scheiden, die beiden heiraten. Landauer bringt eine Tochter aus erster Ehe mit. Landauer und Lachmann bekommen zwei Töchter.
Zum Erfolg wird Hedwig Lachmanns Gedichtband „Im Bilde“. Die bereits 1900 veröffentlichte Übersetzung von „Salome“ von Oscar Wilde verwendet Richard Strauss als Libretto für seine gleichnamige Oper. Doch diese Erfolge bleiben für Hedwig Lachmann nur ein Strohfeuer.
1914 bricht der Erste Weltkrieg aus, Hedwig Lachmann und Gustav Landauer, die zu diesem Zeitpunkt in Berlin leben, positionieren sich als entschiedene Kriegsgegner. 1917 zieht Hedwig Lachmann mit Gustav Landauer von Berlin in ihre Heimat nach Krumbach-Hürben. Sie beziehen die Wohnung der Mutter im jüdischen Schulhaus (unmittelbar westlich der Synagoge in der Synagogengasse). Die Armut bleibt in dieser letzten Kriegsphase der ständige Begleiter ihres Alltags. Die bitteren Umstände des Krieges bringen die Familie nach Hürben. Doch Hürben ist für Hedwig Lachmann auch Heimat, in der sie sich wohl fühlt.
Sie begleitet Landauer auf der Fahrt nach Ulm
Die letzten Tage im Leben von Hedwig Lachmann hat Autorin Rita Steininger, die vor Kurzem eine Biografie über Gustav Landauer verfasst hat, auf der Online-Seite literaturportal.bayern.de beschrieben: Hedwig Lachmann leidet an einem Katarrh, doch bald bessert sich ihr Zustand. Gustav Landauer erfährt, dass sein Neffe Walter (er ist als Soldat eingezogen) auf der Durchreise in Ulm Station macht. Hedwig Lachmann begleitet Landauer auf der Fahrt nach Ulm. Lange müssen sie dann im kalten Bahnhof auf den Zug nach Hause warten, dann folgt die Rückfahrt im ungeheizten Zug.
Rita Steiniger schreibt: „Am nächsten Tag kann sie nicht mehr aufstehen, sie hat hohes Fieber. Der Arzt wird gerufen; er stellt eine Lungenentzündung fest. Als Nächstes wird Gudula, die ältere Tochter, durch ein Telegramm über die schwere Krankheit ihrer Mutter unterrichtet; sie reist in Begleitung ihrer Tante Franziska, Hedwigs Schwester, sofort aus Berlin an. In der Zwischenzeit wacht Gustav Landauer tagelang am Bett seiner Frau und muss hilflos zusehen, wie sie mit dem Tod ringt. Am 21. Februar stirbt sie.“
Auf ihrem Grabstein auf dem Hürbener israelitischen Friedhof sind die Verse zu lesen: O Geist, dahingegeben – Der dunkelsten Gewalt – Wie sehnst du dich ins Leben, – Zurück in die Gestalt.“
Landauer engagiert sich nach dem Ende des Ersten Weltkriegs und der deutschen Niederlage von Krumbach aus in der Folgezeit in München vehement für eine bayerische Rätedemokratie. Als Kulturbeauftragter des neuen Freistaats Bayern will er unter anderem die Prügelstrafe abschaffen. Nach der gewaltsamen Niederschlagung der Räterepublik wird er am 2. Mai 1919 im Zuchthaus Stadelheim von Freikorps-Soldaten ermordet.
Brigittes Sohn ist ein berühmter Regisseur
Tochter Brigitte wandert 1938 in die USA aus, wo sie 1985 stirbt. Brigittes Sohn Mike Nichols (1931 bis 2014) wird zu einem bekannten Regisseur, er führt unter anderem Regie beim legendären Film „Die Reifeprüfung“ mit Dustin Hoffman (1967). Tochter Gudula überlebt den Holocaust in Berlin. Sie wandert 1946 in die USA aus – und wird nach ihrer Ankunft an einer Fußgängerampel überfahren. Julius Lachmann, der musikalisch begabte Bruder Hedwig Lachmanns, wird 1942 von den Nazis in das vom Deutschen Reich besetzte Polen deportiert und ermordet.
Über Gustav Landauer hat Rita Steininger vor Kurzem eine ausführliche Biografie verfasst. Darin spielt der gemeinsame Lebensweg von Gustav Landauer und Hedwig Lachmann und ihre besondere Beziehung zu Krumbach eine wichtige Rolle.
Rita Steininger, Gustav Landauer. Ein Kämpfer für Freiheit und Menschlichkeit. Buchreihe „Vergessenes Bayern“. Volk-Verlag, München, 2020, 208 Seiten.
Weitere Informationen über die Arbeit von Rita Steininger zu Gustav Landauer finden Sie hier;
Was eine Münchner Autorin in Krumbach über Gustav Landauer herausfand