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Krumbach: Das zweite Leben

Krumbach

Das zweite Leben

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    Philipp Dreher 1944 als Kradmelder nahe der Atlantikküste in Nordfrankreich - kurz vor der alliierten Invasion in der Normandie. Einige Wochen später wurde er schwer verwundet und verlor ein Bein.
    Philipp Dreher 1944 als Kradmelder nahe der Atlantikküste in Nordfrankreich - kurz vor der alliierten Invasion in der Normandie. Einige Wochen später wurde er schwer verwundet und verlor ein Bein. Foto: Sammlung Dreher

    Der Beginn des zweiten Lebens von Philipp Dreher: Auch so könnte man wohl die turbulenten Ereignisse vor rund 70 Jahren bezeichnen. Im „Weißen Ross“ in Krumbach, das damals Lazarett war, erlebt der schwer verwundete

    Alle sechs Söhne der Familie Dreher stehen an den Fronten des Zweiten Weltkriegs

    Im Januar 1945 war Philipp Dreher mit amputiertem linken Bein aus englischer Gefangenschaft in die Heimat zurückgekehrt. Sein jüngster Bruder Matthias, kaum 17 Jahre alt, wird im gleichen Monat eingezogen und sollte von Kempten aus noch den Rest des „Großdeutschen Reiches“ verteidigen. Der junge Mann kehrt zwei Monate später nach kurzer Gefangenschaft glücklicherweise gesund heim. Als Philipp im Januar 1943 Soldat wird, erhalten seine Eltern in Oberbleichen die Mitteilung, dass ihr zweitältester Sohn Josef in Serbien gefallen ist. Alle sechs Söhne der Bürgermeister-Familie Johann und Maria Dreher in

    Den Humor hat der inzwischen 90-Jährige trotz schwerer Schicksalsschläge nie verloren. Dabei hatte er im September 1944 mit seinem Leben schon abgeschlossen. Als Mitglied eines Spähtrupps an der Front zwischen Brüssel und Antwerpen von einer englischen Maschinengewehrgarbe getroffen, liegt er schwer verletzt auf einem belgischen Rübenacker. Zwei Kugeln der Salve hatten sein linkes Bein unterhalb des Knies durchschlagen. Sein linker Oberarm hängt nach einem Durchschuss gefühllos herunter und an der rechten Brustseite hat er eine stark blutende Wunde von einem Streifschuss. Philipp Dreher: „Ich machte mich zum Sterben fertig.“ Doch der Schwerverwundete rafft sich noch einmal auf. Unter größten Schmerzen und noch mehr Anstrengung zieht sich der Verwundete auf einen Feldweg hinaus, der in ein Dorf und in den Vorgarten eines Hauses führte.

    Im Lazarett in Brüssel wird ihm ein Bein amputiert

    Der Hausbesitzer findet den Verwundeten schließlich und weckte ihn auf. Philipp Dreher hauchte: „Wasser!“ Der Flame holte einen Topf voll. „Ich hatte durch den Blutverlust unheimlichen Durst“, weiß Dreher heute noch.

    Was dann passierte, ist dem Schwerverletzten nur noch im Unterbewusstsein geläufig. Jedenfalls wird er liegen gelassen und blickt wenig später in zwei Gewehrläufe von englischen Soldaten. Als diese sehen, dass von diesem Mann keine Gefahr ausgeht, werden sie freundlicher. Sie beordern einige Sanitäter zu ihm. Mit zwei Zaunlatten und einem starken Strick wird sein Bein geschient. Zwei Tage später befindet er sich in einem Lazarett in Brüssel, wo ihm die Ärzte das Bein unterhalb des Knies amputieren. „Es war schon ganz brandig“, wurde ihm gesagt.

    Er wird mit anderen Schwerverwundeten auf ein Schiff verfrachtet, das Tage später gen England fährt. Dort angekommen, geht es mit einem Lazarettzug quer durch Großbritannien bis nach Inverness im nördlichen Schottland („der Zug brauchte für die Strecke zwei Wochen“). Vierzehn Tage bleibt er dort und wird dann nach Glasgow verlegt. Ihm selbst geht es zu diesem Zeitpunkt wieder „recht leidlich“. Zeit seines Lebens mit einem gesunden Humor gesegnet, bereitet er im Lazarett eine kleine Weihnachtsfeier vor, in deren Verlauf er ein selbst gefertigtes Gedicht vorträgt. Philipp Dreher erinnert sich: „Gelaufen bin ich damals auch schon wieder, nämlich mit zwei Armkrücken.“

    Es kommt der 7. Januar 1945. Im Glasgower Gefangenenlazarett taucht eine englische Kommission auf, die weit über 100 Verwundete aussucht. Philipp Dreher ist auch dabei. Keiner weiß, was das zu bedeuten hat. Dem Mittelschwaben fällt lediglich auf, dass alle ein Bein oder einen Arm amputiert hatten. Erst später erfährt er, dass die „Auserwählten“ gegen in Deutschland gefangene englische Soldaten ausgetauscht werden sollen – und dies kurz vor Kriegsende.

    Mit einem Schiff werden Philipp Dreher und seine Kameraden an Spanien und Portugal vorbei in die französische Mittelmeerstadt Marseille gebracht. Die englischen Bewacher verfrachten sie auf einen Lazarettzug, der schließlich im schweizerischen und neutralen Genf anhält. Auf dem benachbarten Gleis steht ein deutscher Lazarettzug mit englischen und amerikanischen Verwundeten.

    Die Fahrt endet in Krumbach

    Die „Fahrgäste“ der beiden Züge tauscht man aus, und wenige Tage später wird der Oberbleicher in Stuttgart in einen anderen Zug gesetzt. Die Fahrt endet über Günzburg schließlich in Krumbach.

    In Günzburg sieht er eine Bekannte aus Krumbach, die ihn nach der Zugfahrt zu seinem früheren Lehrherrn, dem Landmaschinenhändler Hans Schmid, begleitet. Dies, bevor er sich seinem Marschbefehl entsprechend im Lazarett im damaligen Englischen Institut (heute Berufsfachschule für Musik) meldet. Schmid ruft in Oberbleichen an und bittet, Philipp abzuholen. Der Vater wird recht zornig und verbittet sich solche Witze. Erst als Philipp Dreher sich selbst meldet, war den Eltern klar, dass ihr Sohn in der Heimat ist. Sie hatten bis zu diesem Zeitpunkt weder von seiner Verwundung, seiner Gefangenschaft noch von seinem Austausch und letztlich der Heimkehr erfahren. Am 5. Februar meldet sich der Verwundete im Institut in Krumbach, kommt einen Monat später zur Nachamputation ins Kloster St. Ottilien und erlebt die Übergabe Krumbachs an die US-Truppen im April 1945 in dem zum Lazarett umgenutzten „Weißen Ross“. Dreher hatte überlebt. Und der Frieden, der jetzt kam, bot seinem früh gezeichneten Leben wieder Aussicht. Gewissermaßen seinem zweiten Leben.

    Unsere Geschichte basiert auf Interviews, die wir mit Philipp Dreher im Jahr 2005 zum Kriegsende führten. Wesentliche Teile der Geschichte wurden 2005 im Buch „Am seidenen Faden“ veröffentlicht. 2015 wird des Kriegsendes vor 70 Jahren gedacht, zugleich feierte Philipp Dreher seinen 90. Geburtstag. Beides ist für uns Anlass, seine bitteren Erlebnisse vor 70 Jahren noch einmal aufzugreifen.

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