Es gibt einen Punkt an diesem Nachmittag, da hätte man gerne die Welt angehalten. Nur so, um mal in aller Ruhe zu erfassen, was da alles gleichzeitig passiert. Standbild Kriegshaber, Mariä Himmelfahrt, etwa 15.30 Uhr, der Platz vor dem alten Tram-Depot. Wir sehen: Eine lange Reihe Stühle entlang der Mauer. Leute, die dort im Schatten sitzen und schauen, was sich tut. Davor unser mobiler Schreibtisch, umringt von Besuchern, die durcheinanderreden. Auf dem Schreibtisch Fotoalben, Pappbecher und Kuchen, für den aber niemand Zeit hat gerade. Unterm Schreibtisch liegt ein Hund, er heißt Lucky und gehört irgendwie auch zu dem Klassentreffen, das hier einberufen worden ist. Schuljahrgang 1943/44, sie waren 50 Mädels damals in Kriegshaber, ach ja, und sechs davon haben später nach Amerika eingeheiratet. Ein paar Meter weiter: Kinder mit Luftballons, Kinder mit geschminkten Gesichtern, Kinder vor einer Fotowand – und dann rückt gerade auch noch unsere historische Straßenbahn aus zu einer kleinen Tour durch Kriegshaber.
Es ist wieder ein Hochsommertag in Kriegshaber – aber die Hitze ist kein Problem, sie ist halt da, so selbstverständlich, wie all die Besucher da sind und so selbstverständlich wie das Gequietsche der alten Tram Typ 506 in der Kurve vor dem Straßenbahndepot. Welche Geschichte zuerst erzählen? Die Lieblingsgeschichte des Tages natürlich. Siegfried Gürth haut die irgendwann raus, temperamentvoll und mit einer Begeisterungsfähigkeit, als wäre das Konzert von Casey Jones im Saal der NCR gerade erst zu Ende. Irgendwann in den 1960er Jahren, die „Lords“ hatte Gürth schon gehört im Saal – und dann kam eines Tages jener Casey Jones, dessen Hit „Dont’ haha“ sie in den Musikboxen gerne gedrückt haben. Besonders häufig in einer Jukebox in Kriegshaber – dazu gleich mehr.
"Ich bin regelrecht getürmt aus der Kneipe"
Nun aber Siegfried Gürth, der 1954 im Alter von fünf Jahren nach Kriegshaber kam: „Nach dem Konzert haben wir mitbekommen, dass Casey Jones noch in unser Stammlokal Kaiserlinde geht – angeblich, weil dort sein „Don’t haha“ so oft in der Musikbox lief wie nirgendwo sonst. Ich habe es im Laufe des Abends geschafft, dass der Sänger mir eine Plattenhülle signiert. Und nach ein paar Bier in der Kaiserlinde schenkte er mir dann zwei Manschettenknöpfe“. Das, so erinnert sich Gürth, blieb nicht unbemerkt bei anderen Fans. „Ich bin regelrecht getürmt aus der Kneipe, und ich musste schon meine geheimen Wege laufen, um die Verfolger abzuhängen. Die hetzten mich durch halb Kriegshaber. Aber die Manschettenknöpfe haben sie nicht bekommen!“ No, they don’t – hahaha …
Auf etwas ruhigere Art hat Hellmut Kreppel sein Berufsleben mit der Musik verbracht. Kreppel führte jahrelang ein großes Musikgeschäft am Augsburger Zeugplatz. Jetzt entrollt der Geigenbaumeister an unserem Schreibtisch ein großes Klassenfoto in Schwarz-Weiß – Erstklässler 1948. Kreppel, geboren 1942, ist aufgewachsen in Kriegshaber, er wohnt noch immer da. Im Keller hat er noch eine Geigen-Werkstatt, wo er Instrumente reparieren kann: Nicht nur Violinen, sondern auch Gitarren, Kontrabässe, Blockflöten … Die andere Hälfte des Kellers ist das Atelier seiner Frau, die malt. „Es gibt zwar acht Geigenbauer in Augsburg, aber kein Musikgeschäft mehr“, sagt Kreppel. Gut für uns, dass er in der Nähe wohnt. Wir brauchen Verlängerungskabel, 30 Meter Minimum, für die Kinder-Fotobox... Hellmut Kreppel bringt eine Kabeltrommel von daheim und ein elend langes Verlängerungskabel obendrein!
Das macht den Zauber an diesen Dienstagen auf dem Platz vor dem Tram-Depot aus. Ständig überraschen uns die Menschen. Mit ihren Erinnerungen, ihren Andenken und ihren Geschichten, aber auch mit ihrer Hilfsbereitschaft.
Eine Märchenerzählerin muss auch durchsetzungsstark sein
Glocken klingeln. Angelika Schuster sammelt die Kinder ein. Sie ist professionelle Märchenerzählerin – mit Examen, wie sie uns berichtet. „Ich habe schon immer Märchen erzählt“, sagt sie. Das hat sie im Unterricht als Werk- und Handarbeitslehrerin gemacht. Ihr war wichtig, dass die Dinge, an denen die Kinder arbeiteten, nicht einfach achtlos zur Seite gelegt wurden. Also hat sie sie mit Bedeutung aufgeladen: durch Märchen. Nun ist die 64-Jährige pensioniert, hat eine Ausbildung zur professionellen Märchenerzählerin gemacht, ist immer wieder im Märchenzelt beim Kulturhaus Abraxas zu hören. Sie muss dabei nicht nur feinfühlig und überzeugend sein, sie muss als Märchenerzählerin auch durchsetzungsstark sein. Das merken wir in der Tram, die Schuster kurzerhand zur Märchenbahn umfunktioniert: „Es war einmal eine Henne …“ erzählt sie dort. Und wenn die Kinder nicht aufpassen, sorgt sie höflich, aber bestimmt, wieder für Ruhe. Wichtig ist Schuster, dass sie mit Hilfe der Märchen den Kindern eine Botschaft mitgibt, dass die Märchen Werte vermitteln. In diesem Fall nicht aufzugeben, es immer wieder versuchen, wie die Henne, die vom König ihren goldenen Fuß zurückhaben will.
An Mariä Himmelfahrt besuchen uns nicht nur „Ureinwohner“ Kriegshabers. Familie Dreier lebt noch nicht einmal ein Jahr in Augsburg. Die junge Familie ist aus beruflichen Gründen von Osnabrück nach Augsburg gezogen. Und Erika Dreier, 33, findet, dass das kein schlechtes Los ist. „Aber wir müssen noch viel von der Stadt entdecken.“ Als neue Kriegshabererin fühlt sie sich nicht, auch wenn sie das Kulturangebot des Stadtteils schätzt, etwa die Bibliothek, vor allem die vielen Kindergruppen. Einzig das passende Spielplatzangebot für ihre Kleinen vermisse sie. Die Plätze, die es gebe, seien zwar sehr schön, aber die Geräte richten sich an ältere Kinder. Herbert und Maria Tyroller kennen noch die Zeiten, als es für junge Familien in Kriegshaber gar keinen Spielplatz gab. Sie haben ein Bild mitgebracht, das sie 1985 beim Demonstrieren zeigt – für den Osterfeldpark. „Letztes GRÜN ade? Kriegshaber protestiert!“ steht auf ihrem Plakat. Sie stehen an der Ulmer Straße, kurz vor dem Straßenbahndepot. Die Front einer alten Tram schaut ins Bild.
Lion schläft seelenruhig
Es hat sich schon etwas getan in Kriegshaber. Die Tyrollers mussten früher mit ihren Kindern in andere Stadtteile gehen, wenn sie draußen spielen wollten, der Familie Klotz ging es nicht anders. „Wir hatten zwar einen Garten gehabt“, sagt Otto Klotz, 72, aber heute gebe es mehr Möglichkeiten. Er ist mit seiner Frau, seiner Tochter und den Enkelkindern gekommen. Unser jüngster Besucher ist gerade elf Wochen alt und die Ruhe selbst. Lion schläft seelenruhig im Kinderwagen, für ihn ist diese Stimmengewirr auf dem Platz vor dem Tram-Depot nur ein Hintergrundrauschen.
Ein Motorradfahrer kommt mit knatternder, schwerer Maschine angefahren, hält mitten auf dem Platz, läuft zur Tram, schaut sie sich kurz an, sagt kein Wort, steigt wieder auf sein Motorrad und fährt weiter. Eine Szene wie aus einem Film.
Ja, die alte Tram. Manfred Schmidt, der sie an diesem Tag für unsere Gäste fährt, ist ein Ur-Straßenbahner. Seit 1985 fährt er in Augsburg – und er erinnert sich gut an die Zeit, als das alte Depot noch die Endstation der Linie 2 war. Schmidt, der am Feiertag von einigen Enthusiasten der Augsburger Straßenbahnfreunde unterstützt wird, hat ein dickes Fotoalbum dabei. Hunderte Bilder – keines ohne Augsburger Straßenbahn. Wie sich die Stadt in wenigen Jahrzehnten verändert hat! „Da sieht man mal, wie man durch Fotos gut vergleichen kann,“ sagt Schmidt zu den Männern, die mit ihm blättern.
Frage an Siegfried Gürth, der sich gerade mit Silvano Tuiach über die Goißn-Maß-Preise („der Amerikaner hat einen Dollar hingeworfen dafür“) unterhalten hat: Gab es denn in den Lokalen auch Kontakte zu Amerikanern? Gab es, sagt Gürth. „Ich hatte einen Freund, US-Soldat, hier in Kriegshaber. Als ich 1968 zum Bund ging, da ging der nach Vietnam.“ Weiß er, was aus dem Freund wurde? „Er kam zurück und besuchte mich, ein Bein fehlte, er war abgeschossen worden als Hubschrauberpilot. Ein Jahr später starb er in Amerika.“ Es kann sehr still werden in Kriegshaber.