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Messerattacke: Neue Erkenntnisse über den Täter in Würzburg – und einige Widersprüche

Messerattacke

Neue Erkenntnisse über den Täter in Würzburg – und einige Widersprüche

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    Trauerkerzen und Blumen liegen vor dem Kaufhaus, in dem der Täter Menschen mit einem Messer attackiert hatte.
    Trauerkerzen und Blumen liegen vor dem Kaufhaus, in dem der Täter Menschen mit einem Messer attackiert hatte. Foto: Nicolas Armer, dpa

    Stück für Stück setzt sich das Bild zusammen. Wer ist dieser aus Somalia stammende 24-jährige Mann? Und welchen Weg hat er bis zu seiner Bluttat am Würzburger Barbarossaplatz am Freitag genommen? Wann wurde er gewalttätig und wann zeigten sich psychische Auffälligkeiten?
    Menschen, die den Täter nach seiner Ankunft in Würzburg 2019 kennengelernt hatten, berichten, dass er bereits damals krank schien. Und dass sich sein psychischer Zustand zunehmend verschlechtert habe. Wurde versucht, den Geflüchteten, der im Alter von 18 Jahren nach Deutschland gekommen war, zu integrieren? Warum endeten diese Versuche in einem Obdachlosenheim und dann in einem schrecklichen Verbrechen? Bei den Recherchen ergeben sich Widersprüche und offene Fragen, die nach weiterer Aufklärung schreien.

    Nach Anfrage dieser Redaktion gaben das Landeskriminalamt (LKA) und die Generalstaatsanwaltschaft am Dienstag in einer gemeinsamen Erklärung weitere Hintergründe bekannt. Seinen Angaben zufolge ist der Somalier über Nordafrika und das Mittelmeer zunächst nach Italien geflohen. Von dort reist er am 6. Mai 2015 nach Deutschland ein. Behördlich erfasst wird er hier von der Außenstelle Chemnitz des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (Bamf).

    Als Kindersoldat in Somalia zwangsrekrutiert?

    Zwei Wochen nach der Einreise stellt der Geflüchtete einen Asylantrag. Begründung: Er werde von der Terrororganisation Al-Schabab in Somalia verfolgt und bedroht. Das Land am Horn von Afrika wird seit Jahrzehnten von Bürgerkrieg und Hungersnöten erschüttert, die islamistische Miliz bekämpft die Regierungen. Das Auswärtige Amt in Berlin sieht erhebliche Gefahren durch Anschläge mit zahlreichen Todesopfern und Verletzten. Nach Berichten von Menschenrechtsorganisationen zwingt die Schabab-Miliz Familien und ganze Dorfgemeinschaften zur Herausgabe bereits acht- und neunjähriger Kinder, um sie für ihre terroristischen Zwecke zu trainieren und einzusetzen. Wie es von den Behörden heißt, soll der damals 18-Jährige in einem Telefonat kurz nach seiner Ankunft in Deutschland 2015 davon gesprochen haben, als elf- oder zwölfjähriges Kind für die Terrororganisation getötet zu haben. Durch einen Zeugen wird diese Darstellung Anfang 2021 bekannt und durch den Generalbundesanwalt überprüft. Erhärten kann man sie offenbar nicht. Auf ein Ermittlungsverfahren wird verzichtet. Anders bei dem Vorfall im Herbst 2015, einem Streit in einer Asylunterkunft wenige Monate nach der Einreise: Wie das sächsische Landeskriminalamt der "Welt" bestätigt, wird ein Ermittlungsverfahren wegen Körperverletzung gegen den Somalier eingeleitet – und von der Staatsanwaltschaft wieder eingestellt. Zu unterschiedlich sind die Schilderungen des Tathergangs unter den Beteiligten.

    Widersprüchliches bei den Aufenthaltsorten

    Die zentrale Ausländerbehörde Sachsens weist den Asylsuchenden nach seiner Erstaufnahme in Chemnitz dem Erzgebirgskreis zu. Von Juni 2015 bis November 2016 ist er hier gemeldet. Dem dortigen Landratsamt zufolge ist er in dieser Zeit in einer Gemeinschaftsunterkunft sowie in Gewährswohnungen untergebracht.

    Was dann folgt, wirft Fragen auf. Laut Unterfrankens Polizeipräsident Gerhard Kallert ist ab 2016 die Stadtverwaltung Düsseldorf für den Mann zuständig. Allerdings ist der Somalier von Februar bis Juni 2017 erneut im Erzgebirgskreis gemeldet. Außerdem ist er im September 2018 auf einem Video zu sehen, veröffentlicht von der Funke-Mediengruppe: Darin schildern er und ein Geflüchteter aus Afghanistan, wie sie von einem rechten Mob verfolgt und bedroht worden seien – in Chemnitz. Dass es sich bei dem Befragten im Video tatsächlich um den späteren Täter von Würzburg handelt, gilt als gesichert.

    Wo hat sich der Somalier also in den Jahren 2016 bis 2019 tatsächlich aufgehalten? Welche Kontakte hatte er in dieser Zeit? Wer hat ihn betreut? Die Stadtverwaltung Düsseldorf hüllt sich in Schweigen. Ein Sprecher verweist auf das Integrationsministerium. Dort heißt es, man kenne den Einzelfall gar nicht, und verweist zurück auf die Stadtverwaltung. Das nordrheinwestfälische Innenministerium bestätigt lediglich, dass der Somalier weder polizeilich noch staatsschutzrechtlich aufgefallen sei.

    Wo ist die Akte des Messer-Angreifers?

    Widersprüche gibt es auch im weiteren Verlauf: Ende Januar 2019 meldet sich der Mann erneut in der Stadt Chemnitz an, allerdings verliert sich dort seine Spur. Von einem "Fortzug nach unbekannt" spricht Polizeipräsident Kallert. Möglicherweise hält sich der junge Somalier schon in den Sommermonaten 2019 in Würzburg auf. Anfang September 2019 meldet er sich offiziell hier bei der Stadt. Genaueres könne man nicht sagen, heißt es aus dem Rathaus in Chemnitz. Die Akte des Betroffenen sei nach Würzburg gegangen. Eine Akte? "Es befindet sich keine Akte aus Chemnitz bei der Stadtverwaltung Würzburg", entgegnet man hier. Fakt ist: Im September 2019 taucht der Somalier offiziell in Würzburg auf. Er ist auffällig – aber nicht so, dass Außenstehende einen Anlass sehen, Alarm zu schlagen. Der Vorsitzende der deutsch-somalischen Gesellschaft in Würzburg, Abdikedar Dini, sagt heute, er habe den Geflüchteten in dieser Zeit als „zurückgezogen und etwas seltsam“ erlebt. Dini lebt seit 2014 in Würzburg, spricht fließend Deutsch und ist als Elektriker in einer Firma tätig.

    Ihm fällt es nicht leicht, über den Täter zu sprechen. Zum einen hat Dini Angst, mit der Tat seines Landsmanns in Verbindung gebracht zu werden. Zum anderen fühlt sich der Vorsitzende der deutsch-somalischen Gesellschaft schuldig: „Vielleicht hätte ich ja früh etwas merken müssen und die Tat damit irgendwie verhindern können.“ Er habe versucht, den Neuankömmling in seinen ersten Monaten in Würzburg zu integrieren. „Ich wollte ihm helfen, denn in seiner Situation braucht man Hilfe“, sagt der 33-Jährige.

    Die Situation im Herbst 2019: Nach vier Jahren in Deutschland hat der Asylsuchende keine Unterkunft und keine Arbeit, stattdessen wechselt er zum mindestens vierten Mal den Wohnort. Dass er nach Würzburg kommt, könnte nach Informationen dieser Redaktion damit zu tun haben, dass Mitglieder seiner Familie hierher Kontakt hatten.

    Obdachlosenheim als sozialer Brennpunkt

    Doch auch in Würzburg kann er nicht Fuß fassen. Hilfsangebote von seinem Landsmann nimmt er nicht an. "Ich bin gar nicht zu ihm durchgedrungen, denn er hat wirres Zeug geredet, zum Beispiel von Männern, die ihn verfolgen,“ erzählt Dini. Aber gefährlich schien ihm das nicht.

    Dem damaligen Migrationsberater der Caritas und Grünen-Stadtrat Antonino Pecoraro fallen die psychischen Probleme des Mannes auch auf, als er ihn Ende September 2019 beim Ausfüllen von Anträgen und bei der Suche nach einer Bleibe unterstützt. „Er hatte dann auch einige Wochen Arbeit gefunden, diese aber schnell wieder verloren“, erinnert sich Pecoraro. Vermutlich sei sein psychischer Zustand der Grund gewesen.

    Im Herbst 2019 lebt der Somalier in Würzburg zunächst auf der Straße und dann in der städtischen Obdachlosenunterkunft in der Sedanstraße. Dort ist er nicht der Einzige mit psychischen Problemen. Die kommunalen Obdachloseneinrichtungen fangen – als letztes Glied der Kette – Menschen auf, die beispielsweise in psychiatrischen Einrichtungen oder anderen Unterkünften gegen Regeln verstoßen und Hausverbot erhalten. Laut Sozialreferat der Stadt leben derzeit 96 Bewohner – davon 34 mit Migrationshintergrund – in der Unterkunft in der Zellerau. Sozialarbeiter der Gefährdetenhilfe arbeiten hier, um die Menschen zu unterstützen. Doch Vandalismus und körperliche Auseinandersetzungen untereinander und gegen die Sozialarbeiter sind häufig: 93 Polizeieinsätze gab es im Lauf des letzten Jahres, 102 Streitigkeiten zählten städtische Mitarbeiter.

    Menschen mit psychischen Problemen landen oft in Obdachlosenunterkünften

    Der Somalier bleibt in der Obdachlosenunterkunft. „Er wurde immer extremer“, schildert Abdikedar Dini seine Beobachtungen in den ersten Monaten 2020. „Er hat so gewirkt, als hätte er Drogen genommen.“ Viel Bier habe der 24-Jährige offenbar auch getrunken. Der Vorsitzende der deutsch-somalischen Gesellschaft bricht den Kontakt ab. „2021 habe ich ihn nicht mehr getroffen.“

    Nach Auskunft der Stadt Würzburg haben Sozialarbeiter dem Mann mehrfach regelmäßige Begleitung angeboten mit rechtlicher Unterstützung zur Lebensführung. "Diese wurden nicht von ihm angenommen." Im Januar 2021 bedroht der Mann einen Mitbewohner und kommt deshalb kurzzeitig ins Zentrum für Seelische Gesundheit in Würzburg. Danach? Im Frühjahr wird der junge Mann von mehreren Zeugen laut schreiend oder leise mit sich sprechend in der Stadt gesehen. Mindestens ein weiteres Mal wird er von der Polizei aufgegriffen.

    Dann kommt der 25. Juni.

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