So ansteckend wie ein Virus breitet sich nach und nach Hektik bei den Primark-Kunden aus. Sie schwirren durch die Gänge des irischen Billigladens im Stuttgarter Einkaufszentrum Milaneo. Kinderwagen und Einkaufssäcke, die sich Kunden am Eingang schnappen und locker vom Boden bis zum Knie reichen, blockieren die Wege. Die Masse treibt einen durch den Laden – immer auf der Suche nach den besten Schnäppchen.
Innerhalb von eineinhalb Stunden seit Ladenöffnung haben die Kunden einen Tisch mit gefalteten und aufeinander gestapelten Schlafanzügen in einen Wühltisch verwandelt. Auf drei Etagen werden Damen-, Herren- und Kindermode sowie Deko-Artikel und Schmuck verkauft. Es gibt alles – und das zu Schleuderpreisen: Ohrringe für einen Euro, Unterwäsche für 50 Cent, sieben Paar Socken für drei Euro, Jeans für acht Euro, Trägershirts für 1,70 Euro. Die Regale reichen bis unter die Decke. Im Geschäft riecht es nach Plastik. Ein Blick in den eingenähten Zettel der Bekleidung verrät, dass sie im Ausland hergestellt worden sind.
Im Kaufrausch prügeln sich Kunden im Discounter
An 42 Kassen im gesamten Laden wird die Kunden-Masse abgefertigt – offenbar viel zu wenig, denn die Schlangen sind lang und die Einkaufssäcke bis obenhin gefüllt. Auch an den Umkleidekabinen herrscht Stau. Wohl deshalb zieht sich eine Kundin vor einem Spiegel im Geschäft um. Neben ihr auf dem Boden ein Haufen Klamotten. Schüler, Geschäftsmänner, junge Mütter mit ihren Kleinkindern, Omas und Opas – sie alle sind im Kaufrausch.
Diese und ähnliche Situationen spielten sich in Vergangenheit auch schon in Discountern ab, die teure Küchengeräte, Uhren oder Tablets deutlich billiger angeboten haben als die Konkurrenz. Bei Aldi prügelten sich beispielsweise Kunden um eine günstigere Variante des Thermomixes.
Kunden werden im Kaufrausch zu Jägern und Sammlern
Der Psychologe Stephan Lermer ist Leiter des Instituts für Persönlichkeit und Kommunikation in München und weiß, warum manche Menschen beim Anblick günstiger Produkte nur eines im Sinn haben: kaufen, kaufen, kaufen. Die „Macht der Masse“ sei ausschlaggebend, erläutert Lermer.
Zahlen und Fakten: Das ist Primark
Unternehmen: Die Modefirma Primark entstand im Jahr 1969 in Dublin (Irland).
Filialen: Primark besitzt insgesamt knapp 330 Filialen weltweit, davon 21 in Deutschland.
Neueröffnungen: Medienberichten zufolge soll Mitte 2017 eine Primark-Filiale in Ingolstadt, 2018 eine in München eröffnen.
Preis: Das irische Modeunternehmen kann eigenen Angaben zufolge nur deshalb so günstige Preise anbieten, da die Firma im Gegensatz zu anderen Unternehmen auf teure Werbung verzichtet. Primark setzt dagegen auf Mund-zu-Mund-Propaganda.
Kritik: Primark steht immer wieder wegen angeblich schlechter Arbeits- und Produktionsbedingungen in der Kritik.
Wenn Kunden in einem Billigladen einkaufen „möchten sie dabei sein und zu den erfolgreichen Jägern und Sammlern gehören. Wenn ich viel bekomme, ist das ein Gewinn. Ich kann mich profilieren und Anerkennung erfahren. Ein Einkauf gibt uns ein Siegergefühl und steigert das Selbstwertgefühl“, sagt der Psychologe. Die Qualität der Ware spiele für manche keine Rolle, nur die Menge.
Ist der Einkaufswagen noch besonders groß und der Kunde legt nur wenige Waren hinein, scheint der Wagen so leer. Ein Trick, der animiert, mehr zu kaufen, erläutert Lermer. Kaufrausch ist ein Gefühl, das der Psychologe wie Trance beschreiben würde. „Konsum macht glücklich“, sagt er, „aber nur im Augenblick des Kaufs – nicht auf Dauer.“
Die Einsicht, zu viel Kleidung oder Unsinn gekauft zu haben, komme nicht bei jedem. Es brauche einen Impuls von außen, also beispielsweise eine andere Person, die den Konsumenten wach rüttelt und ihn auf den maßlosen Einkauf aufmerksam macht. Lermers Ansicht nach wäre ein teureres Produkt oft günstiger – bedenkt man, dass Billigware möglicherweise schon nach kurzer Zeit wieder entsorgt werden muss, weil sie kaputt ist. „So hätte man ökologisch und ökonomisch Gewinn gemacht“, fasst der Psychologe zusammen.
Nicht jeder mag Massenware
Wer nur auf der Suche nach den Spottpreisen ist, ist bei dem Bekleidungsunternehmen Trigema in Burladingen (Baden-Württemberg) an der falschen Adresse. Die Firma produziert seit 1919 Jahren Sport- und Freizeitbekleidung sowie Tag- und Nachtwäsche in Deutschland – und das werde auch so bleiben, betont Trigema-Chef Wolfgang Grupp im Gespräch mit unserer Redaktion.
Jeans, Trägershirts, Jacken – die Kleidung ist deutlich teurer als bei Primark. Teuer, das lässt Grupp nicht zählen. Er stellt klar: „Wir sind nicht teuer. Wir haben eine bessere Qualität und bieten mehr.“ Wachstum bedeutet für Grupp nicht, noch mehr Kleidung zu produzieren, sondern: „Wachstum heißt, dass ein Produkt in seiner Wertigkeit wächst.“
Bei Trigema kaufen nach Ansicht des Unternehmers all diejenigen ein, die die Kleidung länger haben möchten. Grupps Anspruch ist, „keine Massenware zu produzieren. Wir müssen ein Produkt herstellen, das qualitätvoll“ und nach mehreren Waschgängen immer noch in Form sei.
Er ist überzeugt, dass es immer Leute geben werde, die mehr Wert auf Kleidung legten als andere. „Das ist eine Einstellungsfrage“, sagt der Trigema-Chef und verrät, dass er seine Anzüge und Hemden bei einem Maßschneider anfertigen lässt. Sein Jogginganzug, der stamme aber von Trigema. Kleidung sei sein Hobby, erzählt Grupp: „Da muss alles sitzen und passen.“ Zugleich deutet er Bekleidung als Wertschätzung seines Gegenübers.
Zwei Frauen, elf Primark-Tüten
So wie viele andere Bekleidungshersteller die Produktion ins Ausland zu verlegen, kommt für Grupp niemals in Frage, bekräftigt er. Der Geschäftsmann sagt, er kenne viele Unternehmer, die ihre Produktion ins Ausland verlagert hätten und dadurch ärmer geworden seien. Den Herstellern aus dem Ausland sieht Grupp gelassen entgegen: „Primark ist keine Konkurrenz, sondern ein Kollege.“
16 Uhr bei Primark. Auf dem Boden liegen mehr Klamotten als auf den Präsentiertischen. Vor dem Regal stapeln sich Schuhe, vereinzelt stehen welche unter den Kleiderständern, das Regal selbst ist fast leer. Ein zusammengehörendes Paar zu finden, wird wohl schwer. Auf den Knien rutscht eine Putzkraft durch den Laden und fegt Staubmäuse, kaputte Kleiderbügel und abgerissene Etiketten in einen Müllsack.
Zwischen den Wühltischen steht eine Angestellte und legt all die Kleidung zusammen, die die Kunden zuvor auf den Boden geworfen haben. Randvoll sind die Papiertüten, die die Frauen, Männer und Jugendlichen aus dem Laden schleppen. Mit roten Gesichtern stehen zwei junge Frauen am Eingang des Geschäfts und blicken auf ihre Shopping-Ausbeute: Es sind insgesamt elf große Primark-Tüten.
2014 war die Stuttgarter Primark-Filiale eröffnet worden. Eindrücke im Video:
Dieser Artikel ist Teil eines Themenschwerpunkts. Zwölf Nachwuchsjournalisten der Günter Holland Journalistenschule haben sich dem sensiblen Thema "Leben im Rausch" gewidmet. Ihre Artikel, Videos, Karten, Bildergalerien und Grafiken finden Sie hier.