Das Herz rast. Bum bum, bum bum, bum bum. Gegen Ende eines Marathons werden die Muskeln hart, der Schweiß rinnt, der Körper rebelliert. Und doch – ganz plötzlich verfallen Läufer, egal ob Profi oder Marathonneuling, in diese Leichtigkeit. Diesem Läufer-Rausch, dem Flow, dem Runner’s High, dieser mühelosen Bewegung. Kein Schmerz mehr, kein Kampf mehr im Kopf, um durchzuhalten.
Marathonbezwinger, unter zwei Stunden dreißig
Moritz auf der Heide (hier finden Sie seine Facebook-Seite) ist Ultralangstreckenläufer und Triathlet. Im Oktober hat er den Amsterdam-Marathon in 2:27:04 beendet. Unter zwei Stunden dreißig. Ein Höhepunkt in seiner Karriere. „Es lief einfach“, sagt der 29-jährige Wahlmünchner rückblickend. Bis Kilometer 30 sei alles wie gewöhnlich gewesen. Kontrolliert und überlegt. Auf den letzten fünf bis sechs Kilometern änderte sich das. Schlagartig. Die Euphorie erfasste ihn.
„Ich habe mich da in den Rausch hineingelaufen. Ich weiß ja, was mich am Ende eines Marathons – am Limit – erwartet. Diese Art Rauschzustand war wichtig, um durchzuhalten.“ Er war im Flow.
Der Psychologieprofessor Mihaly Csikszentmihalyi war der erste, der dieses Phänomen wissenschaftlich erfasste. Er glaubte, dass die folgenden Bedingungen gegeben sein müsse, um in den Flow zu kommen, Unter anderem müssen die Herausforderung (Marathon laufen) und die Fähigkeiten (Trainingszustand) zusammenpassen. Dann wird das Tun kontrollierbar und Sorgen verschwinden, genauso wie die Gefühle für Ort und Zeit. Die Theorie funktioniert laut Csikszentmihalyi bei Arbeit, Hobby, Partnerschaft und Sport. Unis lehren seine Studien.
Flow entsteht auch auf kürzeren Distanzen
Auf der Heide kennt den Flow, der schon bei kürzeren Distanzen eintreten kann und sich somit auch bei Hobbysportlern zeigt. Er findet dieses Glücksgefühl nicht nur auf dem Asphalt, sondern auch auf schmalen Pfaden zwischen verschneiten Berggipfeln. Für den Langstreckenläufer ist die Erklärung, wie Flow entsteht, simpel. „Die Berge vermitteln mir einfach ein Glücksgefühl und das wirkt sich dementsprechend auf den Körper aus.“ Das Läuferhochgefühl, das Runner’s High, das packt ihn bei den langen Distanzen.
Der Rausch des Laufens ist seit der Jahrtausendwende vielfach erforscht worden. 2010 fanden Wissenschaftler der Technischen Universität München und der Uni Bonn heraus, wie das Runner’s High zustande kommt, das sich anders als der Flow speziell auf das Laufen bezieht. Demnach lösen körpereigene Stoffe, die Endorphine, dieses Hochgefühl aus. Das Gehirn schüttet die Substanzen, die ähnlich wie Opium wirkt, aus, sie strömt durch den Körper, beflügelt den Läufer.
Mountainbiker, Radrennfahrer, Snowboarder oder Schwimmer, Läufer – sie alle erleben den Flow, was zu deutsch so viel wie fließen oder strömen bedeutet. „Plötzlich ging alles wie von allein“, hört man dann in der stolzen Nacherzählung von Wettkämpfen, in denen die Anstrengung auf einmal wie weggeblasen war.
Die Motivation ist der Schlüssel zur Euphorie
Um in den Flowzustand zu gelangen, bedarf es nicht der Einnahme von bewusstseinserweiternden Substanzen. Sportwissenschaftler Oliver Stoll von der Uni Halle erforscht Themen Perfektionismus und Flow-Erfahrungen. Wer eine Sportart betreibt, einfach weil es Spaß macht – Experten nennen das die intrinsische Motivation –, der hat auch die Möglichkeit, bei der Bewegung „das Hirn auszuschalten“, die Umwelt auszublenden.
Es gibt natürlich Faktoren, die den Flow ausschließen. Immer dann, wenn wir zu viele und zu intensive Erwartungen hätten, sagt Stoll. Oder aber, Sportler verfolgen ein Ziel, das nicht der Sport an sich ist, sondern zum Beispiel der verkrampfte Gedanke an das Gewinnen. Oder gar an ein Preisgeld.
Stoll will allerdings nicht ausschließen, dass auch Olympiateilnehmer im Medaillenwettkampf trotzdem in diesen bewusstseinserweiternden Zustand des Flow geraten.
Es gibt in diesem Zusammenhang noch eine weitere Theorie. Die der transienten Hypofrontalität, die Arne Dietrich von der American University of Beirut entwickelt hat. Stoll erklärt, dass dieser Theorie zufolge der Teil des Gehirns, mit dem wir grübeln, nachdenken oder Probleme lösen, im Flowzustand inaktiv ist. „Bei einem Straßenmarathon oder einem unkomplizierten Radrennkurs benötigt das Gehirn keine hohen kognitiven Ressourcen.“ Vereinfacht gesagt: Der Athlet muss nicht viel nachdenken.
Gleichzeitig ist dieser Teil des Gehirns auch für die Wahrnehmung von Raum und Zeit verantwortlich. „Der Verlust dieser Größen ist ein kennzeichnendes Element von Flow.“
Flow funktioniert nicht überall
Bei Spielen wie Fußball, Basketball oder Tennis, ist es deshalb schwierig, diesen Zustand zu erreichen. Denn Sportler sind dann kognitiv aktiv, müssen aufmerksam sein, müssen Situationen wahrnehmen und einschätzen, müssen bereit sein sofort zu reagieren.
Auch für den Läufer Moritz auf der Heide ist der Flow oder gar das Runner’s High nicht regelmäßig an der Tagesordnung. In vielen Trainingseinheiten läuft er schon mit müden Muskeln los. Er weiß, dass der Lauf dann Arbeit bedeutet. An diesen Tagen bleibt das Glücksgefühl aus. Passieren kann das auch an Lauftagen ohne vorbelastete Muskulatur.
Doch dann, wenn es wirklich wieder soweit ist, wirkt das Gefühl, dass der Flow oder ein Runner’s High hinterlässt, umso stärker. Dann, wenn sich während des Laufes plötzlich wieder ein „unglaubliches Gefühl von Leichtigkeit“ entwickelt.
Dieser Artikel ist Teil eines Themenschwerpunkts. Zwölf Nachwuchsjournalisten der Günter Holland Journalistenschule haben sich dem sensiblen Thema "Leben im Rausch" gewidmet. Ihre Artikel, Videos, Karten, Bildergalerien und Grafiken finden Sie hier.