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Leben im Rausch: Der Teufel in mir: Eine Alkoholkranke über ihr Schicksal

Leben im Rausch

Der Teufel in mir: Eine Alkoholkranke über ihr Schicksal

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    Hedwig Herdmann ist alkoholkrank. Im Abbé-Pierre-Zentrum in Augsburg hat sie gelernt, ihre Sucht zu kontrollieren.
    Hedwig Herdmann ist alkoholkrank. Im Abbé-Pierre-Zentrum in Augsburg hat sie gelernt, ihre Sucht zu kontrollieren. Foto: Marcus Merk

    Frau Mayr ist misstrauisch. Schon seit Tagen hängt eine Tüte Obst an der Wohnungstür ihrer Nachbarin. Ihr Auto steht da, doch sie öffnet nicht. Der Nachbarin wird doch nichts passiert sein? Frau Mayr ringt mit sich. Sie hat einen Schlüssel zu der Wohnung. Soll sie einfach hineingehen? Was, wenn die Nachbarin ihr das übel nimmt? Schließlich hält sie es nicht mehr aus. Sie kramt den Schlüssel aus der Schublade, geht hinüber und sperrt leise auf.

    Ein saurer Geruch schlägt ihr entgegen. Die Nachbarin liegt im Wohnzimmer. Nackt bis auf einen Slip kauert sie inmitten von leeren Wodkaflaschen und Pfützen mit Erbrochenem. Frau Mayr reagiert schnell. Sie stürzt zu der Frau, merkt, dass sie noch atmet. Dann rennt sie in ihre Wohnung und wählt den Notruf. Es ist die Rettung für Hedwig Herdmann.

    Hedwig Herdmann hatte 4,9 Promille im Blut

    Ein Jahr später sitzt Herdmann an einem Holztisch im Gemeinschaftsraum des Abbé-Pierre-Zentrums in Augsburg, einer Tagesstätte für Alkoholkranke. Sie nippt an einer grünen Tasse. Heißes Wasser und klein geschnittener Ingwer, darauf schwört sie. Herdmann ist schlank, fast schon dürr. Das dunkle Haar trägt die gepflegte 48-Jährige ziemlich kurz, die braunen Augen blicken ein bisschen traurig, als sie vom Tiefpunkt ihres Lebens erzählt. „Im Krankenhaus haben sie 4,9 Promille in meinem Blut gemessen. Der Alk hat mich im wahrsten Sinne des Wortes zu Boden geworfen.“ Wäre die Nachbarin nicht gekommen, Herdmann hätte es wohl nicht überlebt.

    Benannt ist das Abbé-Pierre-Zentrum nach einem französischen Geistlichen.
    Benannt ist das Abbé-Pierre-Zentrum nach einem französischen Geistlichen. Foto: Alexander Sing

    Ihren richtigen Namen will sie nicht in der Zeitung lesen. Auch, weil ihre Familie einen großen Anteil an ihrem Abrutschen in die Sucht trage, sagt sie. Eigentlich ist Hedwig Herdmann der Name einer Heldin aus einem Kinderbuch. „Sie ist rebellisch, wie ich.“

    Im Abbé-Pierre-Zentrum zählt sie zu den wenigen Frauen. Und sie hat als Einzige einen Studienabschluss. In ihrem früheren Leben war Hedwig Herdmann Grundschullehrerin. Wie kann so jemand so tief fallen? Die traurige Geschichte beginnt schon in ihrer Kindheit.

    Als Kind betete sie zum lieben Gott, dass sie ein Junge werde

    Hedwig Herdmann wuchs behütet im Allgäu auf. Der Vater war Bankdirektor, die Mutter Hausfrau. Es fehlte an nichts. Schon früh zeigte sich aber, dass Herdmann nicht ins Bild der perfekten Familie passen wollte. „Mir wurde als Kind das Gefühl gegeben, dass mit mir etwas nicht stimmt. Ich habe meinem Uropa den Stock weggenommen und beim Nachbarn Kirschen geklaut. Das macht man als Mädchen wohl nicht.“ Mit vier Jahren betete sie regelmäßig zum lieben Gott, dass sie ein Junge werde. Mit zehn küsste die frühreife Hedwig beim Flaschendrehen zum ersten Mal einen Jungen. Prompt verboten die Eltern ihr den Umgang mit Jungs. „In diesem Augenblick habe ich beschlossen, meinen Eltern nichts mehr zu erzählen.“

    Professor Martin Keck ist Chefarzt und Direktor des Max-Planck-Instituts für Psychiatrie in München.
    Professor Martin Keck ist Chefarzt und Direktor des Max-Planck-Instituts für Psychiatrie in München. Foto: Max-Planck-Institut

    Auch die Sucht behielt sie lange für sich. Mit 13 trank Herdmann zum ersten Mal Alkohol. Batida Orange. Es war verboten, es war aufregend. Den ersten Rausch hatte sie mit 15 auf einer Klassenfahrt. Drei Bier reichten aus. Schon damals spürte sie, dass der Alkohol ihr hilft, die Probleme des Alltags zu vergessen.

    Ein typischer Fall. Und einer von vielen, die bei Professor Martin Keck auf dem Tisch liegen. Er ist Chefarzt des Max-Planck-Instituts für Psychiatrie. In der Klinik im Münchner Stadtteil Schwabing werden auch Suchterkrankungen behandelt und erforscht. Keck lässt sich in seinem Büro – weiße Wände, weiße Möbel, weiße Fliesen – auf einen Stuhl sinken und lehnt sich zurück. „Besonders einschneidende Erlebnisse, die in der Jugend mit Alkohol bekämpft wurden, können Auslösemomente für eine spätere Sucht sein“, sagt der Arzt. Dann springt er auf, kramt das Modell eines längs aufgeschnittenen Gehirns aus einem Regal und legt es auf den Tisch.

    Jeder Rausch entsteht im Gehirn auf die gleiche Art und Weise

    Ein Stift, den er in seinem Kittel findet, dient als Zeigestab. „Das ist das Mittelhirn“, fährt der Professor fort und deutet auf einen Punkt im Zentrum des Modells. „Hier wird die Ausschüttung von Dopamin geregelt, dem zentralen Nervenbotenstoff.“ Das oft als Glückshormon bezeichnete Dopamin ist der Motor eines jeden Rauschs, egal ob durch Kokain ausgelöst oder einen Bungee-Sprung. Vom Mittelhirn aus wird es in andere Hinregionen gesendet und setzt dort die Ausschüttung weiterer Botenstoffe in Gang, die für ein belebendes, entspannendes oder erregendes Gefühl im Körper sorgen.

    Das Bedürfnis, sich zu berauschen, ist sogar natürlich. Es dient dem Selbsterhaltungstrieb. Der Körper belohnt sich mit einem angenehmen Gefühl, wenn wir gut essen, Freunde treffen oder Sex haben. Kann es dann überhaupt schädlich sein? „Ja.“ Martin Keck dreht das Modell in seiner Hand und deutet auf den vorderen Teil. „Das Stirnhirn ist dafür verantwortlich, unser Verhalten zu steuern, den freien Willen zu erhalten. Es wird aber nach jeder Rauscherfahrung umprogrammiert.“ Jetzt hält er kurz inne.

    Manche Menschen werden unglaublich schnell abhängig

    Und weiter geht’s. Das Gehirn verknüpft den Alkohol mit dem positiven, berauschenden Gefühl. Es speichert ab, dass Trinken Sorgen weniger schlimm macht. Und mit jedem Rausch kann ein wenig Selbstkontrolle verloren gehen. „Bei manchen Menschen wird das Gehirn gleich sehr stark umgebaut. Sie werden unglaublich schnell abhängig.“ Weil das Stirnhirn sich in der Jugend langsamer als das Mittelhirn entwickelt, werde ein Rausch in der Pubertät in der Regel intensiver wahrgenommen, prägt den Menschen aber auch stärker.

    ---Trennung _Den Schülern sagte sie, sie müsse aufs Klo. Dabei trank sie Wodka_ Trennung---

    Vielleicht schlich sich Hedwig Herdmann deshalb schon in ihrer Jugend regelmäßig am Wochenende aus dem Haus. Obwohl noch keine 18, ging sie in Kneipen, um zu rauchen und zu trinken. In ihrer Würzburger Studienzeit ging es weiter. Sie feierte gern – wie viele Studenten. Endlich konnte sie machen, was sie wollte. Doch das Studium, das sie begonnen hatte, um Kindern zu helfen, erwies sich als endgültiger Weg in die Sackgasse der Sucht.

    Massenphänomen Rausch

    Fast 20 Millionen Menschen in Deutschland konsumieren laut Bundesgesundheitsministerium regelmäßig Rauschmittel.

    Den mit Abstand größten Anteil bilden Raucher (15 Millionen, Stand 2012). Dahinter folgen Medikamentenabhängige (2,3 Millionen) und Alkoholkranke (1,8 Millionen).

    Alkoholkranke haben es extrem schwer, nach dem Konsum eines alkoholischen Getränks mit dem Trinken aufzuhören.

    Wird die Beschaffung von Alkohol zum zentralen Punkt des Alltags, sei das ebenfalls ein deutliches Anzeichen für eine Sucht.

    Nach Studien der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung sind mehr als doppelt so viele Männer von einer Alkoholkrankheit betroffen wie Frauen.

    Das liegt auch daran, dass das Trinken von Alkohol bei Männern eher akzeptiert wird. Die genetische Voraussetzung spielt ebenfalls eine Rolle.

    Als sie 1997 an eine Augsburger Grundschule versetzt wurde, merkte Hedwig Herdmann vom ersten Tag an: Das passt nicht. „Es gab zu viele Regeln. Ich konnte mich schon immer schlecht unterordnen. Es war wieder wie bei meinem Vater.“ Lehrpläne, Bürokratie, das ganze Schulsystem waren ihr zuwider. Jeden Abend trank sie vor dem Schlafengehen. Eltern und Freunde drängten sie, die sichere Stelle zu behalten. „Das habe ich gegen mein Inneres gemacht. Ich war völlig fremdbestimmt. Und da habe ich dann auch zum ersten Mal bewusst den Rausch gesucht.“

    Der Alkohol ergriff immer mehr Besitz. Irgendwann begann sie, auch in der Früh zu trinken. Später gab es das erste Bier schon auf dem Heimweg an der Tankstelle. Schließlich hielt sie es auch in der Schule nicht mehr ohne Alkohol aus. „Zu den Kindern habe ich gesagt, ich muss kurz aufs Klo. Dort habe ich heimlich Wodka getrunken.“ Irgendwann ging sie nicht mehr zur Schule. Sie trank teilweise puren 80-prozentigen Rum. Herdmann musste immer mehr trinken, um überhaupt in den Rauschzustand zu kommen, in dem sie sich noch gut fühlte.

    Kein Rausch ist je wieder so intensiv wie der erste

    Martin Keck kann das erklären. Mit jeder Rauscherfahrung stumpfe das Gehirn ab, sagt er. „Die erste Erfahrung mit einem Rauschmittel ist in der Regel besonders intensiv. Die nächste unter gleichen Voraussetzungen wird nicht mehr als so heftig empfunden.“ Für ein berauschendes Gefühl benötigt der Körper also immer mehr. Ist das Gehirn erst einmal so programmiert, dass Alkohol und Glücksgefühl fest zueinander gehören, ist es schwer, diese Verbindung zu zerschlagen.

    Hedwig Hedmann kann wieder optimistisch in die Zukunft blicken.
    Hedwig Hedmann kann wieder optimistisch in die Zukunft blicken. Foto: Marcus Merk

    „Wenn die Synapsen im Gehirn schon seit der Jugend auf ein positives Gefühl bei Alkohol programmiert sind, ist das dort fest zementiert“, sagt Keck. „Der Alkohol ist für diese Menschen die Autobahn zum Glücksgefühl. Neue Wege zum Glück sind erst mal nur ein Trampelpfad. Und wer geht schon gern durchs Gebüsch, wenn es eine schöne, breite Straße gibt?“

    Da helfe nur, sich die Sucht einzugestehen und zu analysieren, warum in bestimmten Momenten das Verlangen nach Alkohol zunimmt. Anstatt den Gelüsten nachzugeben, muss das Belohnungssystem auf andere Art angekurbelt werden. Durch Sport oder Sozialkontakte. „Unser Gehirn ist faul. Es will am liebsten immer das Gleiche machen“, beschreibt der Mediziner den steinigen Weg aus der Sucht.

    Herdmann kann sich sogar wieder ein Glas Wein genehmigen

    Hedwig Herdmann brauchte einige Therapien, um zu verstehen, wo ihre Krankheit herkommt und wie sie damit umgehen soll. Denn der Suchtdruck ist immer noch da. „Er ist wie ein Teufel, der ständig sagt: ,Trink mich, trink mich!‘“ Doch das würde sie umbringen. Denn die Krankheit verursachte bei ihr eine Leberzirrhose. Anfangs fiel es ihr schwer, überall Alkohol ausgesetzt zu sein. An der Tankstelle, im Supermarkt, im Restaurant, überall lauerte die Verführung.

    Erst im Abbé-Pierre-Zentrum bekam sie die Sucht einigermaßen in den Griff. „Hier lässt man mich so sein, wie ich bin. Man traut mir etwas zu. Das hilft mir ungemein.“ Fünf Tage in der Woche ist die mittlerweile frühpensionierte Lehrerin hier. Sie kocht für Mitarbeiter und Kranke, ist jeden Tag in der Früh als Erste da und setzt Kaffee auf. Dann muss sie, wie alle Kranken, einen Atemalkoholtest machen. Wer mehr als eine Promille hat, muss nach Hause gehen. Bei Herdmann zeigt der Bildschirm des kleinen Geräts stets 0,0 an. Sie hat sich wieder unter Kontrolle. Herdmann schafft es sogar, zu speziellen Anlässen ein Gläschen zu trinken, ohne wieder in alte Muster zu verfallen.

    Im selbst gebauten Steinofen backen die Kranken im Abbé-Pierre-Zentrum Brot.
    Im selbst gebauten Steinofen backen die Kranken im Abbé-Pierre-Zentrum Brot. Foto: Alexander Sing

    Auch ihren Eltern hat sie sich wieder angenähert. Was das Leben noch für sie bereithält, weiß sie nicht. Das macht ihr aber nichts. „Ich war schon immer Optimist, ich hatte es nur ein paar Jahre verloren.“ Nur eines steht fest: Sie will sich nie wieder jemandem unterordnen. Auch nicht dem Alkohol.

    Dieser Artikel ist Teil eines Themenschwerpunkts. Zwölf Nachwuchsjournalisten der Günter Holland Journalistenschule haben sich dem sensiblen Thema "Leben im Rausch" gewidmet. Ihre Artikel, Videos, Karten, Bildergalerien und Grafiken finden Sie hier.

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