Wir feiern Parties, trinken Alkohol, machen die Nacht im Klub zum Tag. Wir stürzen uns von Klippen, drücken aufs Gaspedal und berauschen uns an Sex und Konsum. Einerseits. Andererseits suchen wir die Stille, machen Urlaub im Kloster und entspannen in der Natur. Wir fasten, entgiften unseren Körper und schätzen den Zustand der Nüchternheit.
Rausch gehört zum Menschsein: Die Tasse Espresso am Morgen, die Zigarette danach, der Tanz, die Musik, die Drogen – die Liste der legalen und illegalen Rauschmittel ist lang, die Kulturgeschichte des Rausches noch länger. Allein die Tradition des Bierbrauens lässt sich über mittelalterliche Klöster bis hin zu den Ägyptern vor 6000 Jahren verfolgen: Feuchtfröhliche Abende sind quasi Teil unserer DNA. Der Wiener Lebemann und Philosophieprofessor Robert Pfaller geht noch weiter: Er sieht in dem Genuss von Alkohol die Auflehnung gegen die gegenwärtige Kontrollgesellschaft, die vor allem Arbeit und Verbote kenne. Im Rausch liegt ein Funken Freiheit.
Demgegenüber steht die Nüchternheit. Sie leitet sich von dem lateinischen Wort „nocturnus“ ab, das soviel wie nächtlich bedeutet und dessen Ursprung vermutlich ebenfalls in den Klöstern liegt. Mönche bezeichneten damit den Zustand des Menschen in der Morgendämmerung, als er noch nichts gegessen und getrunken hat – die Bedeutung „nicht betrunken“ kam erst später dazu. Übertragen auf einen geistigen Zustand liegt der Reiz der Nüchternheit in der Klarheit des Bewusstseins. Es geht um die Frage, was von einem übrig bleibt, wenn alle störenden Einflüsse wegfallen.
Urlaub im Kloster liegt im Trend
Um das herauszufinden, zieht es immer mehr Menschen in Klöster. Während der sonntägliche Gottesdienstbesuch erheblich an Reiz eingebüßt hat, ist es bei Klöstern gerade umgekehrt. Eine Umfrage der Deutschen Ordensobernkonferenz aus dem Jahr 2015 zeigt, dass allein 70 Klöster 180 000 Gäste aufnahmen. Die Besucher suchten vor allem zweierlei: Erholung und geistliche Erfahrung. Traditionelle Formen der Spiritualität scheinen ein willkommenes Mittel zu sein, um dem Rausch des modernen Lebens zu entfliehen und zu sich zu finden. Meditation und Gebet als Weg zur inneren Mitte.
Einer, der regelmäßig an geistlichen Übungen – sogenannten Exerzitien – teilnimmt, ist Frank Beyersdörfer. Der zweifache Familienvater zieht sich jedes Jahr einmal zurück, unter anderem in das Exerzitienhaus St. Paulus in Leitershofen im Landkreis Augsburg. Für ihn sind die acht- bis zehntägigen Exerzitien ein Kontrastprogramm zu seinem Alltag. „Hier kann ich abschalten, bin weg von zu Hause und das Handy ist auch aus“, sagt der 49-Jährige.
Das Ziel der Exerzitien, die aus Gebet, Meditation, Selbstreflexion und Gesprächen mit einem geistlichen Begleiter bestehen, beschreibt die langjährige Exerzitienbegleiterin, Kordula Wilhelm-Boos von der katholischen Gemeinschaft Christlichen Lebens, so: „Es geht darum, innezuhalten, sich neu zu orientieren und zu fragen, was einem im Leben wirklich wichtig ist.“
"Überfordert, über-informiert, hysterisiert"
Exerzitien und Klosterurlaube sind Teil einer Bewegung, die der Trendforscher Matthias Horx bereits seit den neunziger Jahren beobachtet und deren Ursprung seiner Einschätzung nach in den modernen Lebensbedingungen liegt. „Wir alle sind überfordert, über-informiert, hysterisiert durch tausende von Impulsen, Gerüchten, Vermutungen, Meinungen, die in einem täglich medial um die Ohren gehauen werden.“ Daher würden die Menschen zunehmend nach Entspannung, emotionaler Ausgeglichenheit, informeller Selbstbestimmung und Konzentration auf das Wesentliche suchen.
Dem Experten zufolge habe bei Minderheiten schon immer das Bedürfnis nach Verlangsamung und Askese bestanden, durch die radikale Zunahme der Vernetzung durch das Internet und die Medien sei nun jedoch auf breiter Front ein Bedürfnis nach Kulturtechniken entstanden, mit denen Menschen ihre innere Balance halten oder wiedererringen können.
Bereits im christlichen Jahreskalender stehen Rausch und Nüchternheit in einem ständigen Wechsel. Ritualisierten Formen des Feierns, wie den Festen Ostern, Pfingsten und Weihnachten, gehen mit gottgegebener Selbstverständlichkeit Fastenzeiten voraus. Orgie, Exzess und Völlerei folgen auf Enthaltsamkeit, Maßhalten und Verzicht. Dabei geht es weniger um einen Kampf zwischen Lebensfreude und Genussfeindlichkeit, sondern um Rausch und Nüchternheit als zwei Seiten derselben Medaille.
Schon die Philosophen im antiken Griechenland unterschieden zwischen den Prinzipien Eros und Logos. Während Eros etwa für Liebe, Sinnlichkeit, Sexualität und Ekstase steht, bezeichnet Logos den Bereich von Verstand, Vernunft, Struktur und Ordnung. Auch Nietzsche sah die Welt – 2000 Jahre später – in einem ständigen Widerstreit zweier Prinzipien, die Handlungen der Menschen bestimmen. Während für ihn das dionysische, benannt nach Dionysos, dem griechischen Gott des Weines, den Drang ins Ungebundene, Ausufernde und Rauschhafte verkörpert, steht das apollinische, benannt nach Apollon, dem Gott des Lichts, für ein Streben nach Ordnung, Begrenzung und Maß.
Die Deutschen verzichten eher auf Alkohol als aufs Internet
Maßhalten im Sinne eines vorübergehenden Verzichts auf Alkohol, ist in der Fastenzeit zwischen Aschermittwoch und Ostern auch heutzutage in Deutschland sehr beliebt. Eine repräsentative Forsa-Studie aus dem Jahr 2015 belegt, dass mehr als jeder zweite Deutsche schon einmal gezielt für mehrere Wochen auf bestimmte Genussmittel oder Konsumgüter verzichtet hat. Favorit beim Fasten ist der Alkohol – hierauf verzichten 70 Prozent der Befragten am ehesten.
Dem Alltags entfliehen wollen viele auch in der Natur. Das Motto genervter Großstädter lautet daher: Raus aufs Land und fern von den Zerstreuungen des hektischen Häusermolochs dem ursprünglichen Zustand der Einheit von Mensch und Natur nachspüren. Doch was, wenn die majestätische Größe der Berge einen langsam erdrückt, der Anblick des Meeres einen immer mehr zum haltsuchenden Strandgut macht und die unverschämt klare Waldluft Wehmut nach dem Duft von Regen auf Asphalt zwischen Häuserschluchten weckt? Dann ist es Zeit für die andere Seite der Medaille.
Denn am Ende ist es doch so: Sieben Tage die Woche ein Fünf-Gänge-Menü in einem Drei-Sterne-Restaurant ist genauso langweilig wie ein Feierabend, Wochenende oder Urlaub ohne Arbeit. Kurz: Die Dinge erhalten ihren Wert erst dadurch, dass sie nicht selbstverständlich sind. Oder mehr noch: durch ihr Gegenteil. So folgt auf die Anspannung die Entspannung, auf das Wachen der Schlaf und auf den Rausch die Nüchternheit – als natürlicher Rhythmus der Welt.
Dieser Artikel ist Teil eines Themenschwerpunkts. Zwölf Nachwuchsjournalisten der Günter Holland Journalistenschule haben sich dem sensiblen Thema "Leben im Rausch" gewidmet. Ihre Artikel, Videos, Karten, Bildergalerien und Grafiken finden Sie hier.