Der erste Schuss trifft die Erzherzogin. Die Kugel durchschlägt mühelos die dünne Fahrzeugwand und bohrt sich Sophie Chotek, Herzogin von Hohenstein, in den Unterleib. Sofort fängt sie stark zu bluten an. Der Erzherzog ruft erschrocken: „Sopherl! Sopherl! Stirb’ nicht! Bleib am Leben für unsere Kinder!“ Dann trifft ihn die zweite Kugel in den Hals. Der Graf Harrach, der mit im Auto sitzt und von dem dieser Augenzeugenbericht stammt, hat später noch beschrieben wie Franz Ferdinand von Österreich-Este sagt: „Es ist nichts.“ Erst noch klar und deutlich, dann weitere sechs oder sieben Mal, jedes Mal leiser und undeutlicher.
Schließlich ist ein leises Röcheln zu hören, wahrscheinlich ein Zeichen des Verblutens. Als das Fahrzeug das hastig geänderte Ziel der Fahrt, den Palast des habsburgischen Statthalters Oskar Potiorek, erreicht, sind der österreichische Thronfolger und seine Gemahlin bereits tot. Es ist der 28. Juni 1914, kurz vor elf Uhr vormittags.
***
Es ist so viel leichter, etwas kaputt zu machen als etwas aufzubauen. Es war ein Kinderspiel für die Armee der bosnischen Serben, von ihren Stellungen auf den umliegenden Hügeln die bosnisch-herzegowinische Nationalbibliothek in Sarajevo mit Granaten in Brand zu schießen. In der Nacht vom 25. auf den 26. August 1992 verbrannten bei dem gezielten Angriff auf diesen Speicher des gemeinsamen friedlichen Zusammenlebens wohl rund 1,5 Millionen Bücher, Handschriften und Dokumente.
Sogar die Feuerwehr wurde beschossen, weil sie versucht hat, wenigstens einen Teil des Hauses zu retten, das von den Habsburgern einst als Rathaus von Sarajevo erbaut wurde. Mittlerweile ist das Gebäude wieder aufgebaut und vielleicht schöner als zuvor. Bezahlt hat das Millionenprojekt die EU. Fast 20 Jahre nach Ende des Krieges ist der Staat Bosnien und Herzegowina weit davon entfernt, so ein Vorhaben stemmen zu können. Genau genommen gelingt in dem Land, das gut ein Drittel kleiner ist als Bayern, eigentlich kaum etwas ohne ausländische Unterstützung.
Die Verhaftung rettet erst einmal das Leben des Attentäters
Der Attentäter wird noch am Tatort gefasst. Ein wütender Mob hat sich auf ihn gestürzt. Wenn es stimmt, was in den Polizeiberichten steht, haben die Polizisten Gavrilo Princip, so heißt der 19-jährige Gymnasiast, durch seine Verhaftung wohl erst einmal das Leben gerettet. Nichts will Princip in diesem Moment weniger. Er hat bereits die Zyankalikapsel geschluckt, die er bei sich hatte, um sich der ihm so verhassten Habsburger Justiz zu entziehen.
Doch das Gift ist zu alt oder zu stark verdünnt, bleibt jedenfalls ohne Wirkung. Doch Princip ist nicht allein. Heute gilt als sicher, dass sieben Attentäter entlang der seit langem öffentlich bekannt gegebenen Fahrtroute des Thronfolgerpaars platziert waren. Princip ist wohl nur derjenige mit dem größten Willen, dem kühlsten Kopf – und dem größten Glück.
***
Europa ist auch der Traum von Aida. Im schummrigen Licht des „Café Bosna“ erzählt sie, wie satt sie es hat, in einem Land zu leben, in dem Politiker ihre Aufgabe vor allem darin sehen, sich selbst und ihre Freunde und Familie zu versorgen. Das Café Bosna war einst das schönste Kino der Stadt. Von den Kinosesseln blickt man heute auf eine Bühne, auf der betagte Sofas, Tische und Stühle stehen. Zu trinken bestellen kann man Bier aus Flaschen und selbst gebrannten Schnaps aus Weinkaraffen.
Ein grauhaariger Gitarrespieler singt und spielt traurige Lieder, mit großem Ernst begleitet von mehreren Sängern in wechselnder Besetzung. Die Luft ist völlig verraucht, aber Aida dreht schon wieder eine Zigarette. Und erzählt. Sie war neun Jahre alt, als der Krieg in Bosnien ausbrach. Erst vor kurzem, sagt sie, sind ihr die Tagebücher wieder in die Hände gefallen, die sie als Kind während des Krieges geführt hat. Viel ist darin die Rede vom Essen, davon, dass es schon wieder nur Bohnen und Kartoffeln gab. Sie wohnte damals mit ihrer Schwester und den Eltern in einer Wohnung auf dem Land.
Irgendwann stand die Familie ihres Cousins vor der Tür, die aus ihrem Dorf fliehen musste. Nun waren sie 14 Personen in einer Wohnung. Dann kamen eines Nachts auch Vermummte in ihr Zuhause, brüllten, sagten, sie sollten ihre Waffen abgeben. Sie hatten doch nicht einmal genug zu essen, geschweige denn Waffen. Da haben die Vermummten Aidas Vater gepackt und wollten ihn mitnehmen. Die Mutter hat hysterisch geschrien, Aida und ihre Schwester geweint und sich an den Vater geklammert. Schließlich sind die Männer wieder abgezogen - ohne den Vater.
Am nächsten Tag hat die Familie darüber nachgedacht, wohin sie fliehen könnte. Sie sind dann in das Haus einer serbischen Familie gezogen, die auch vertrieben worden ist… Aida ist heute 30 und lebt als selbstständige Grafikdesignerin in Sarajevo. Sie ist als Muslima geboren, aber an einen Gott kann sie nicht glauben. Wenn sie könnte, so sagt sie, würde sie alle Religionen abschaffen. Und alle Grenzen, denn Nationen und Grenzen sind doch nur Konstrukte, um die Menschen voneinander abzugrenzen.
Es gilt zu zeigen, wie beliebt die Habsburer in Bosnien sin
Erst kurz nach zehn Uhr war der Sonderzug mit Franz Ferdinand und Sophie am Bahnhof von Sarajevo angekommen. Die beiden logieren etwas außerhalb, in einem Grandhotel in einem Kurort. Der Erzherzog hat in den vergangenen Tagen unweit von Sarajevo ein Manöver inspiziert. Die meisten Kasernen der Stadt sind darum verwaist. Aber Franz Ferdinand ist ohnehin nicht daran gelegen, dass seine Fahrt im offenen Wagen von einem starken Militäraufgebot geschützt wird – gilt es doch zu zeigen, wie beliebt die Habsburger in Bosnien sind.
Österreich-Ungarn hat Bosnien 1878 okkupiert und der bis dahin so rückständigen Provinz des Osmanischen Reiches unbestreitbare Fortschritte beschert. Die prächtigen Häuser entlang der nun kanalisierten und gebändigten Miljacka zeugen ebenso von Sarajevos neuer Blüte wie die elektrische Straßenbahn. Die wachsenden Spannungen zwischen den Nationalitäten und Religionen hat das Habsburger Regime aber eher noch befeuert. Als sich Kaiser Franz Joseph Bosnien zu seinem 60. Thronjubiläum im Jahr 1908 ungeniert selbst zum Geschenk macht, führt er Europa bereits an den Rand eines großen Krieges: „Ich habe Mich bestimmt gefunden, die Rechte Meiner Souveränität auf Bosnien und die Herzegowina zu erstrecken und die für Mein Haus geltende Erbfolgeordnung auch für diese Länder in Wirksamkeit zu setzen, sowie ihnen gleichzeitig verfassungsmäßige Einrichtungen zu gewähren.“
***
1425 Tage, bis zum 29. Februar 1996, hat die Belagerung von Sarajevo gedauert. Es gab Tage, da schlugen fast 4000 Granaten in der Stadt ein. Scharfschützen töteten Kinder, Erwachsene und Greise, die auf der Suche nach Nahrung ihre Verstecke verlassen mussten. Heute will sich keiner mehr verkriechen, überall sitzt man unter freiem Himmel, trinkt starken türkischen Kaffee, schwatzt, raucht Wasserpfeife. In Gruppen ziehen asiatische Touristen zur wiederaufgebauten Markthalle, an der bei zwei Granatenangriffen jedes Mal dutzende Menschen auf einmal starben; vor der Herz-Jesu-Kathedrale fotografieren sie den mit rotem Kunstharz geschlossenen Trichter im Pflaster, der die Erinnerung an den Beschuss wachhalten soll.
Und vielleicht blicken sie später, auf dem Weg zum Flughafen, aus dem Fenster ihres Busses. Dann sehen sie rechts und links der breiten Ausfallstraße, die einst als „Sniper Alley“ traurige Berühmtheit erlangte, die Hochhäuser aus kommunistischer Zeit, deren Fassaden fast alle großflächig mit rohen Ziegeln geflickt sind. Die Geister dieses Krieges leben weiter in Sarajevo. In der Fußgängerzone steht da plötzlich eine junge Frau mit nur einem Bein. Läuft da ein Mann, aus dessen T-Shirt-Ärmel kein Arm kommt. Wohl ein Drittel ihrer gut 360.000 Einwohner hat die Stadt im Laufe oder nach dem Krieg verlassen, ist ersetzt worden durch Neuankömmlinge, viele vom Land.
Sarajevo ist inzwischen eine vor allem muslimische Stadt
Auch wenn man kaum verschleierte und wenige Kopftuch tragende Frauen sieht – Sarajevo ist inzwischen eine mehrheitlich muslimische Stadt. Wo man auch ist, immer wird man mindestens ein Minarett in den Blick bekommen. Die Türkei investiert viel Geld in die Renovierung von Moscheen. Aber nicht nur, es gibt sogar eine Universität hier, in der mehrheitlich türkische Studenten eingeschrieben sind. Und auch andere Staaten sind großzügig: Mit Geld aus Saudi-Arabien ist die 4000 Menschen Platz bietende König-Fahd-Moschee gebaut worden.
Neben der Steintreppe zur beeindruckenden Gazi-Huzrey-Begova-Bibliothek steht auf einer Stele „Donated by the State of Qatar“. Aber auch die katholische und die orthodoxe Kathedrale sehen aus, als wären sie eben erst gebaut worden. Dass hier auch noch die drittgrößte Synagoge Europas steht, sei da nur noch am Rande erwähnt. Irgendjemand hat Sarajevo einmal als „europäisches Jerusalem“ bezeichnet. Das ist vielleicht etwas übertrieben.
Aber wenn man durch die Stadt läuft, bekommt man schnell eine Vorstellung davon, welchen Reichtum diese Vielfalt der Kulturen birgt – und welches Konfliktpotenzial. Auch schon 1914. Doch Sarajevo, das ist eben auch: Rudel wilder Hunde, die durch die Straßen streunen; alte Frauen, die auf der Straße Obst und Gemüse aus dem eigenen Garten verkaufen; bettelnde Kinder, die mit flinken Händen in fremden Hosen- und Handtaschen nach Wertgegenständen suchen; österreichische Banken, spanische Bekleidungsketten und deutsche Drogeriemärkte in frisch renovierten Gründerzeitbauten.
***
Gegen Viertel nach zehn Uhr besteigt man die Wagen. Die Kolonne besteht aus sechs Fahrzeugen, auf die sich rund 30 Personen verteilten. Franz Ferdinand und Sophie sitzen im dritten Fahrzeug. Nebeneinander. Bei einem offiziellen Termin. Das allein ist außergewöhnlich. Sophie Gräfin Chotek ist zwar wirklich die große und einzige Liebe im Leben von Franz Ferdinand. Aber nach den habsburgischen Ehegesetzen gilt sie nicht als ebenbürtig, da sie keiner Herrscherfamilie angehört. Franz Ferdinand hat lange gekämpft, um die Genehmigung seines Onkels, Kaiser Franz Joseph, zu dieser unstandesgemäßen Ehe zu erhalten.
Der Preis dafür war hoch: Er musste für alle noch nicht geborenen Kinder auf die Zugehörigkeit zum Hause Habsburg, samt der damit verbundenen Rechte, verzichten. Am Wiener Hof wird Sophie bei jeder Gelegenheit geschnitten, ihre Teilnahme an repräsentativen Terminen ist unerwünscht. Zumindest die beiden sind glücklich zusammen, zwei Söhne, Max (1902–1964) und Ernst (1904–1954) und eine Tochter, Sophie (1901– 1990), entstammen dieser skandalösen Verbindung.
Die Gräben sind noch tief zwischen Kroaten, Muslimen und Serben
Dalibor Perkovic zu treffen, ist zurzeit nicht ganz einfach. Seit Tagen schon bereitet er mit seinen Kollegen vom staatlichen Fernsehen eine große Spendengala für die Opfer derverheerenden Überschwemmungen vom Mai vor. Wirklich alle, die in Bosniens Kultur- und Unterhaltungsbetrieb einen Namen haben, werden dabei sein. Seine eigene Talkshow macht Dalibor zwar gerade nicht mehr, aber seine Beiträge für andere Sendungen und Moderationen muss er weiter liefern. Und dann gibt es ja noch den 28. Juni. Auf Initiative Frankreichs wird dann dem 100. Jahrestag der Ermordung des österreichischen Thronfolgers in Sarajevo in großem Stil gedacht.
Inzwischen haben sich auch Deutschland, Österreich mit eingeklinkt, außerdem Spanien, Italien und England. Unter anderem werden die Wiener Philharmoniker ein großes Konzert spielen. Und Daribor soll dafür sorgen, dass die Feierlichkeiten international die richtige Beachtung finden. Das alles mag erklären, warum er jetzt, mit Dreitagebart und tiefen Ringen unter den Augen, deutlich älter aussieht als die 24 Jahre, die er alt ist. Dalibor stammt aus dem Süden des Landes, aus einer mehrheitlich kroatisch geprägten Gegend. Dass er in Sarajevo studieren wollte, stieß bei seinen ehemaligen Klassenkameraden auf Unverständnis.
„Von rund 500 Abiturienten meines Jahrgangs sind vielleicht zehn nach Sarajevo. Und als ich vor ein paar Jahren Freunde in Mostar besucht habe, einer Stadt, die inoffiziell geteilt ist in eine muslimische und eine kroatische Hälfte, waren die noch in der anderen Hälfte der Stadt, obwohl sie schon ein Jahr dort gelebt hatten.“ Die Gräben, die sich noch immer zwischen Kroaten, Muslimen und Serben auftun, machen jeden Fortschritt bei der Verwaltung des Landes unglaublich mühselig. Der serbische Landesteil beteiligt sich zwar offiziell an der Ausrichtung der Feierlichkeiten in Sarajevo, es gibt sogar ein Radrennen vom serbischen Ost-Sarajevo in die Stadtmitte. Aber der Präsident der Republika Srpska, Milorad Dodik, wird nicht zum Festakt kommen.
Ein Helden-Denkmal für die Attentäter von Sarajevo
Stattdessen werden die Attentäter Gavrilo Princip in Ost-Sarajevo mit einem Denkmal als Helden geehrt. Im nationalen Fernsehen wird für alle Schrift-Einblendungen jeden Tag das Alphabet gewechselt. Früher hieß die gemeinsame Sprache aller Volksgruppen Serbokroatisch, einziger Unterschied war, dass die Serben das kyrillische Alphabet bevorzugten, die anderen das lateinische. Nun gibt es offiziell drei Sprachen: Serbisch, Kroatisch und Bosnisch.
De facto sind die Unterschiede aber so gering, dass die Angehörigen aller Volksgruppen sich problemlos verstehen. Dalibor glaubt trotz allem an Veränderung. „Das Kulturprogramm zum Gedächtnis des Ersten Weltkriegs ist auf Dauer angelegt und bindet alle mit ein. Nur mit solchen Projekten können auf lange Sicht Vertrauen und Verbindungen aufgebaut werden. Dafür brauchen wir die EU. Und als jetzt die Hochwasserkatastrophe so viel Zerstörung gebracht hat, haben die Leute zum ersten Mal nicht nach dem Namen oder der Herkunft gefragt, sondern sich einfach geholfen. Das war sehr berührend und ich hoffe, dass davon etwas bleibt.“
***
Das Wetter ist schön, die Sonne scheint kräftig, Sophie lässt ihren Sonnenschirm während der langsamen Fahrt aufgespannt. Rechts und links der Straße grüßen Fahnen und freundlich winkende Untertanen den hohen Besuch. Im Rathaus, dieser gebauten Habsburger Machtdemonstration in eigenwillig pseudomaurischem Stil, wartet bereits der Bürgermeister. Er muss den Knall gehört haben: eine Bombe! Ist der Erzherzog unversehrt? Ja, der Bombenwerfer, der 17-jährige Gymnasiast Vaso Cabrinovic, hat schlecht gezielt. Der Sprengsatz prallt am Verdeck von Franz Ferdinands Wagen ab und explodiert erst neben dem folgenden Wagen. Keine Toten, aber mehrere Verletzte. Cabrinovic schluckt eine Zyankalikapsel, die aber nicht wirkt, und ist schnell gefasst. Die Kolonne steht nun eine ganze Weile auf dem Fleck. Wären die anderen Attentäter Profis, hätten sie die allgemeine Verwirrung genutzt, um Franz Ferdinand zu erschießen. So aber…
Alle drei Sprachen sind immer präsent
In einer kleinen Sonderausstellung sucht auch die Nationalgalerie nach einer alle verbindenden nationalen Identität. Damir Niksic zeigt in zwei Räumen die wichtigsten Werke der bosnischen Historienmalerei: weiße Wände, auf die mit schwarzem Klebeband leere Rahmen gezogen sind. Ein Sinnbild dafür, dass es statt einer Geschichtsdeutung hier immer mindestens drei gibt. Weiter hinten eine Videoarbeit von Igor Bosnjak: Drei Schirme, auf denen der identische Film eines Gebärdendolmetschers läuft. Darunter jeweils ein Schild, für die Sprache, aus der er angeblich übersetzt: Bosnisch, Kroatisch, Serbisch.
***
Franz Ferdinand gilt als ein schwieriger Mensch. Cholerisch, eigenbrötlerisch und rechthaberisch sind noch die schmeichelhafteren Charakterisierungen, mit denen er oft beschrieben wird. Zeit seines Lebens ist er ein fanatischer Jäger. 274 889 Tiere soll er nach penibler bürokratischer Zählung zur Strecke gebracht haben. Historiker und Psychologen haben sich an dieser pathologischen Schießwut abgearbeitet.
Viel wichtiger vielleicht dies: Nach Jägeraberglauben soll der Abschuss eines weißen Wilds seinem Jäger binnen Jahresfrist Unglück bringen. Im August 1913 hat Franz Ferdinand im Salzburger Blühnbachtal einen weißen Gamsbock geschossen. Das Tier steht noch heute ausgestopft im „Haus der Natur“ in Salzburg.
***
Am Ufer der Miljacka, kurz vor der alten Lateinerbrücke, drehen ein japanisches und ein spanisches Fernsehteam die gleichen Bilder: den Ort des Attentats von 1914 und das kleine Museum auf der gegenüberliegenden Flussseite, das die Stadt ihrer österreichischen Epoche und der Ermordung des Thronfolgers gewidmet hat. Von außen bekommt das Haus noch auf den letzten Drücker eine Schönheitskur.
Innen sind Franz Ferdinand und Sophie bei ihrem letzten gemeinsamen öffentlichen Auftritt versteinert: als lebensgroße Puppen vor einem Bild der historischen Rathaustreppe. Im alten Basar- und Handwerkerviertel filmt ein englischsprachiges Team. Ebenfalls dort, im neuen Pressebüro der Stadt, erklärt Fatima den Spagat, den sie bei der Vermarktung der Stadt ständig machen muss. Natürlich ist es gut für den Tourismus, wenn nun alle Welt wieder auf Sarajevo blickt. Aber: „Wir wollen nicht immer nur als Ort des Kriegs und der Gewalt wahrgenommen werden. Es gibt hier so viel mehr…“
Vor dem Attentat witzelte der Thronfolger noch
Um halb elf Uhr muss der Bürgermeister von Sarajevo erst einmal als Blitzableiter für den aufgebrachten Franz Ferdinand herhalten: „Herr Bürgermeister, da kommt man nach Sarajevo, um der Stadt einen Besuch zu machen, und man schleudert Bomben! Das ist empörend!“ Dann wird das geplante Besuchsprogramm ohne Änderungen abgespult. Nur keine Angst zeigen.
Einziges Zugeständnis an die Sicherheitslage: Auf dem Weg zum Krankenhaus, wo der Erzherzog die Opfer des Anschlags besuchen will, soll die Kolonne eine andere Route nehmen. Es gibt ein Foto, das Franz Ferdinand und Sophie beim Verlassen des Rathauses zeigt. Auf dem Weg zum Wagen soll der Erzherzog noch gewitzelt haben: „Mir scheint, wir werden heut’ noch ein paar Kugerln bekommen.“ Es ist Viertel vor elf Uhr.
***
Münzgeld zu haben ist in Sarajevo überlebenswichtig; für das Gedeck in der Teestube Franz & Sophie; für das Bier im Hostel Franz Ferdinand; beim Abzählen der richtigen Summe sieht man sich die Bildseite automatisch mal näher an. Sie zeigt: eine Taube mit Olivenzweig.
Der Wagen bleibt direkt vor einem der Attentäter stehen
Dass der Fahrer des ersten Wagens doch auf der ursprünglichen Route bleibt, auf Höhe der Lateinerbrücke vom Appel-Kai nach rechts abbiegt, liefert später Verschwörungstheorien Nahrung. Denn als er auf seinen Irrtum aufmerksam gemacht wird und stehen bleibt, muss die ganze Kolonne halten. Die Wagen haben keinen Rückwärtsgang, müssen von Hand zurückgesetzt werden. Das Protokoll lässt nicht zu, dass der Wagen mit dem Erzherzog – der eben einem Bombenattentat entkam – einfach vorausfährt.
So bleibt der Wagen für Minuten an der Straßenecke stehen. Direkt vor der Nase von Gavrilo Princip, der nach dem Scheitern seiner Komplizen angeblich schon darüber nachgedacht hat, sich umzubringen. Jetzt will er nicht mehr sterben, zumindest nicht gleich. Er schließt die Hand um den Griff seiner Pistole und läuft auf den Wagen zu. Ohne zu zögern, schießt er zwei Mal…