Die Briten treiben aber auch ganz banale Fragen um: Brauchen wir einen neuen Pass? Selbst Brexit-Wähler bereuen inzwischen ihre Entscheidung. Gibt es einen Ausweg, einen Schritt zurück? Hier einige Entwicklungen und Stimmen nach dem "Tag X":
KATERSTIMMUNG: Viele Briten sind fassungslos, fragen sich, was mit ihrem Land los ist, können nicht begreifen, dass die Brexit-Leute gewonnen haben. "Das macht mir Angst", bekennt Rebecca Hall (47) in London. "Ich bin kein politischer Mensch, ich dachte, es würde schon gutgehen", meint sie. Dan O'Mahoney, ein 80-jähriger Ire, sitzt im Pub, liest Zeitung - und schüttelt nur den Kopf. "Ich lebe seit 62 Jahren in England und ich liebe Großbritannien, aber was sie jetzt gemacht haben, verstehe ich einfach nicht."
REUE: Auch Brexit-Wähler bereuen bereits ihre Entscheidung. Selbst im Wahllokal habe er nicht daran geglaubt, dass das Brexit-Lager gewinnen würde, bekennt ein Marktverkäufer in Manchester der BBC. Mit den Hashtags #Bregret #WhatHaveWeDone geben viele ihrer Verzweiflung Ausdruck. "Ich würde zurück zum Wahllokal gehen und fürs Bleiben stimmen, einfach, weil heute Morgen die Realität deutlich wird", sagte eine Studentin dem Sender ITV. Ein anderer Brexit-Wähler sagte der BBC: "Ich dachte nicht, dass meine Stimme allzu viel Gewicht haben würde, weil ich geglaubt, habe, wir würden sowieso bleiben."
VERZWEIFELTES AUFBÄUMEN: Mehrere Millionen Briten fordern inzwischen eine zweite Abstimmung. Seine digitale Unterschrift kann man bei einer offiziellen Online-Petition eintragen. Schon 100 000 Unterstützer reichen, damit das Parlament eine Debatte in Betracht ziehen muss. Der Labour-Abgeordnete David Lammy strebt eine einfachere Lösung an. Das Parlament solle das Votum einfach kippen. "Wir können diesen Wahnsinn durch eine Abstimmung im Parlament stoppen und diesen Alptraum beenden." Doch große Aussichten haben solche Initiativen eher nicht.
STIMMEN: Kirby McDaid (48) in der Highstreet im Londoner Viertel Dagenham zieht einen Einkaufstrolley hinter sich her. Sie ist wütend auf Premierminister David Cameron. Die Brexit-Abstimmung war vor allem ein Denkzettel an "die da oben", meint sie. "Wir haben die Schnauze voll von den Lügen", sagt sie. "Cameron hat jahrelang kein gutes Haar an der EU gelassen. Dann erzählt er uns, dass wir unbedingt drin bleiben müssen, weil sonst alles zusammenbricht?"
WEGGETAUCHT: Die großen Brexit-Wortführer - Londons Ex-Bürgermeister Boris Johnson und der Rechtspopulist Nigel Farage, Chef der EU-feindlichen Partei Ukip - haben sich am Wochenende diskret zurückgezogen. Ansonsten lassen sie keine Kamera aus. Feiern sie ihren Sieg oder bereiten die sich auf den Rosenkrieg in Brüssel vor?
SCHEIDUNG: Es ist wie im ganz normalen Leben. Der Ausstieg in Brüssel droht zur schmutzigen Scheidungsschlacht zu werden. Und es ist wie bei Millionen Ehepaaren: Eine Seite spielt mitunter auf Zeit. Die Brexit-Führer scheinen die Trennung erst mal auf die lange Bank schieben zu wollen. Brüssel schäumt vor Wut: Dort will man das Unvermeidliche möglichst schnell hinter sich bringen.
SCHOTTLAND: Das ist das möglicherweise dornigste Problem, das auf Brexit-London zukommt. Nicola Sturgeon, die Regierungschefin in Edinburgh, fasst schon ein zweites Unabhängigkeits-Votum ins Auge. 2014 war ein Anlauf knapp gescheitert - doch nach dem Brexit sehen die Chancen im EU-freundlichen Schottland besser aus. Scheidet Schottland aus, wäre dies das Ende des Vereinigten Königreichs in seiner heutigen Form - ein Alptraum für London, doch möglicherweise kaum zu verhindern. Gibt es in ein paar Jahren eine richtige Grenze zwischen England und Schottland - mit Passkontrolle?
PÄSSE: Brauche ich einen neuen Pass?, fragen sich jetzt viele Briten. Immerhin steht ja "Europäische Union" auf dem Dokument. Die BBC beruhigt die Landsleute: Weil die Austrittsverhandlungen mit Brüssel lange dauern werden, bleiben die "alten" Pässe erstmal gültig: "Sie brauchen keine Angst zu haben, wenn Sie diesen Sommer verreisen."
GRÜNDE: Noch herrscht weitgehende Sprachlosigkeit über die Ursachen des Brexit-Siegs. "Das Ergebnis war so unerwartet wie Donald Trumps Griff nach der Republikaner-Nominierung", zieht der Think Tank Chatham House Parallelen zu den USA. Auch das ständige Eindreschen von Premier David Cameron auf die EU habe eine entscheidende Rolle gespielt - sein Wandel zum Pro-Europäer im Wahlkampf war schlichtweg nicht glaubhaft. Viele meinen, das Votum für den Brexit war eher eine Protestwahl gegen die Regierung, gegen das Establishment, der Aufstand der kleinen Leute.
MIGRATION: Die Einwanderung von Ausländern, besonders aus der EU, war ein Hauptthema im Wahlkampf. Der Rechtspopulist Farage hat das Reizthema geschickt gespielt - und ohne Hemmungen Ängste der Bevölkerung vor Ausländern geschürt. Im Londoner Viertel Barking, wo viele Migranten leben, meint ein Mann, der sich nur mit seinem Vornamen Travor vorstellt, ohne Wenn und Aber, dass er keine weiteren Zuwanderer will. "Die machen einfach zu viele Probleme, schlägern sich in der Straße und stehlen." Schuld an der Misere seien die Politiker. Deshalb habe er für den Brexit gestimmt.
MEDIEN: Viele Medien kennen nur ätzende Kritik. "Welcome to Boris Island" - Willkommen auf der Boris-Insel, höhnt der "Independent" mit Blick auf den Brexit-Wortführer, Londons Ex-Bürgermeister Johnson. "Wie eine globale Krise gemacht wird", titelt die "Financial Times". Schlicht und ergreifend "Erdbeben", meint die ehrwürdige "Times".
KOLLATERALSCHADEN: In der Labour-Partei braut sich inzwischen eine Revolte gegen Oppositionschef Jeremy Corbyn zusammen. Er habe sich im Wahlkampf nicht mit genügend Nachdruck für den EU-Verbleib eingesetzt, monieren seine Kritiker. Doch dahinter steht die Furcht, dass der eher farblose Corbyn bei Neuwahlen schlecht abschneiden könnte - vor allem gegen einen schillernden Mann wie Boris Johnson. Corbyn ist seit vergangenen Herbst Parteichef, jedoch eher glücklos. (dpa)
Petition für ein zweites Referendum