Der Corona-Ausbruch mit mindestens 730 Neuinfizierten im größten Schlachtbetrieb des Branchenriesen Tönnies in Rheda-Wiedenbrück hat in der Stadt für Proteste und Verunsicherung gesorgt.
Zugleich heizte die hohe Zahl der Infizierten die Debatte über die Arbeitsbedingung in der Fleischindustrie erneut an. Weitere Tests und die Ursachenforschung liefen am Donnerstag auf Hochdruck. Eltern und Kinder protestierten gegen die Schließungen von Schulen und Kitas im gesamten Kreis Gütersloh.
Tönnies hatte am Mittwoch nach dem Corona-Großausbruch seinen Hauptproduktionsbetrieb in Rheda-Wiedenbrück vorläufig stoppen müssen. Zudem hatte der Kreis Gütersloh verfügt, dass alle Schulen und Kitas bis zu den Sommerferien wieder geschlossen werden, um eine Ausbreitung des Virus in der Bevölkerung zu vermeiden.
Der Branchen-Riese hatte bereits am Mittwoch mehr als 650 registrierte Neuinfektionen vermeldet. Bis zum Donnerstagabend stieg die Zahl nach der Auswertung von gut 1100 Tests auf mindestens 730. Für rund 7000 Menschen wurde eine Quarantäne verfügt.
Für die Fortsetzung der Tests fragte der nordrhein-westfälische Kreis bei der Bundeswehr Hilfe an. Sie soll ab Freitag Soldaten mit medizinischen Vorkenntnissen für Tests und andere Helfer für die Dokumentation schicken. Laut einem Tönnies-Konzernsprecher sollen künftig pro Tag 1500 bis 2000 Mitarbeiter auf das Corona-Virus getestet werden. Nach dem Start der behördlich angeordneten Reihe sind noch rund 5300 Tests offen.
Der Konzern hatte die niedrigen Temperaturen durch Kühlung in den Produktionsräumen und Heimreisen der Beschäftigten nach Osteuropa an den zurückliegenden langen Wochenenden als mögliche Gründe für den Infektionsausbruch genannt. Dazu meinte eine Expertin für Infektionskrankheiten am Donnerstag, sie halte es für "extrem unwahrscheinlich", dass Hunderte Corona-Fälle auf solche Familienbesuche zurückgehen. "Die Inkubationszeit beträgt im Mittel fünf Tage, so dass ein Wochenendbesuch kaum so eine große Anzahl an Personen erklären kann", sagte Isabella Eckerle von der Abteilung für Infektionskrankheiten der Universität Genf.
Laut der Gewerkschaft Nahrung, Genuss, Gaststätten (NGG) reichen die nach den ersten Corona-Ausbrüchen in Schlachtbetrieben angeordneten Schutzmaßnahmen für die Beschäftigten nicht. "Die Menschen arbeiten weiter auf engstem Raum, die Bänder in den Fleischfabriken laufen meist in der gleichen Geschwindigkeit wie vor der Krise", sagte ein Sprecher. Verdi warf dem Kreis Gütersloh vor, unzureichende Hygienepläne des Unternehmen abgesegnet zu haben.
NRW-Ministerpräsident Armin Laschet (CDU) geriet wegen einer Äußerung unter Druck - und nahm daraufhin erneut Stellung. "Menschen gleich welcher Herkunft irgendeine Schuld am Virus zu geben, verbietet sich. Mir ist wichtig klarzumachen, dass das für mich wie für die gesamte Landesregierung selbstverständlich ist", erklärte Laschet am Donnerstag. Die Verantwortung für das Geschehen liege bei den Unternehmen, betonte der CDU-Politiker. Er kündigte zugleich "substanzielle Verbesserungen bei den Bedingungen insbesondere für Arbeitnehmer aus Bulgarien und Rumänien" an.
Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD) will "in Kürze" den geplanten Gesetzentwurf für verschärfte Regeln in der Fleischbranche vorlegen, hieß es aus seinem Ministerium.
Am Mittwoch hatte Laschet auf die Frage, was der Corona-Ausbruch im Schlachtbetrieb Tönnies über die bisherigen Lockerungen in NRW aussage, geantwortet: "Das sagt darüber überhaupt nichts aus, weil Rumänen und Bulgaren da eingereist sind und da der Virus herkommt. Das wird überall passieren." Der SPD-Fraktionschef im NRW-Landtag Thomas Kutschaty hatte daraufhin von Laschet eine Entschuldigung gefordert. "Mit diesem Zitat hat sich Armin Laschet die Denke von Tönnies eins zu eins zu Eigen gemacht. Das ist unterste Schublade", sagte Kutschaty der Deutschen Presse-Agentur.
Kritik war auch von der Evangelischen Kirche und der Caritas gekommen. "Es ist sehr leichtfertig, das nun auf die Nationalität von Beschäftigten zu verkürzen", sagte Volker Brüggenjürgen vom Caritasverband im Kreis Gütersloh. Man müsse befürchten, dass in einigen Wochen im öffentlichen Eindruck nur noch hängenbleibe, dass die Beschäftigten aus Rumänien und Bulgarien verantwortlich für den Ausbruch seien. Das sei unhaltbar und könne auch den sozialen Zusammenhalt vor Ort gefährden.
Dutzende Lehrer und Eltern mit ihren Kindern machten unterdessen ihrem Unmut Luft - vor dem privaten Tönnies-Anwesen, einem Werk des Schlachtbetriebs sowie einer Kirche in Rheda-Wiedenbrück. Sie brachten Schilder mit Aufdrucken wie "Stoppt die Ausbeute bei Tönnies" mit.
Konzernintern belebte die Krise einen langanhaltenden Streit an der Führungsspitze: Robert Tönnies, Mitinhaber des Schlachtbetriebs, forderte den Rücktritt seines Onkels Clemens Tönnies aus der Geschäftsleitung. (dpa)