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Weißenhorn: Gehörlose wird Stadträtin: "Vielleicht kann ich die Tür für andere öffnen"

Weißenhorn

Gehörlose wird Stadträtin: "Vielleicht kann ich die Tür für andere öffnen"

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    Julia Probst von den Grünen rückt für Christiane Döring in den Weißenhorner Stadtrat nach. Damit übernimmt die 40-Jährige eine Pionier-Rolle in Bayern.
    Julia Probst von den Grünen rückt für Christiane Döring in den Weißenhorner Stadtrat nach. Damit übernimmt die 40-Jährige eine Pionier-Rolle in Bayern. Foto: Jens Noll

    Frau Probst, wir führen dieses Interview mithilfe einer Gebärdensprachdolmetscherin. Gibt es denn auch Gebärden für spezielle Begriffe aus der Region, vielleicht sogar aus Weißenhorn?
    JULIA PROBST: Auch in der Gebärdensprache existieren unterschiedliche Dialekte. Aber eine eigene Gebärde für Weißenhorn gibt es nicht. Der Name wird einfach zusammengesetzt aus "weiß" und "Horn". Für Ulm gibt es ein eigenes Zeichen: eine Geste für den Spatz und den Schnabel.

    Sie rücken für Christiane Döring für die Grünen in den Weißenhorner Stadtrat nach und werden die erste gehörlose Stadträtin in Bayern sein. Was bedeutet Ihnen diese Pionier-Rolle?
    JULIA PROBST: Es ist natürlich eine neue Situation für mich. Aber politisch aktiv war ich schon davor. Diese Erfahrung kann ich mitnehmen und eine neue Perspektive dann auch mitbringen in den Stadtrat. Auf diese Aufgabe freue ich mich sehr und auf die Möglichkeiten, die dadurch entstehen. Vielleicht schaffe ich es dadurch auch, die Tür aufzumachen für andere Gehörlose, die politisch arbeiten wollen.

    Welche politische Vorerfahrung meinen Sie?
    JULIA PROBST: Ich war für einige Jahre Mitglied im Landesrat für digitale Entwicklung und Kultur in Rheinland-Pfalz bei Ministerpräsidentin Malu Dreyer. Dazu wurde ich eingeladen, ich habe viel dort gelernt. Frau Dreyer bewundere ich total. Sie ist empathisch und kommunikativ. Sie hat selbst auch eine Behinderung, weil sie MS hat, und geht sehr selbstverständlich damit um. Sie will das aber nicht zu ihrem Hauptthema machen, was ich total verstehe. Aber es wäre auch eine Möglichkeit, andere Menschen zu bestärken durch die Präsenz in der Öffentlichkeit. Abgesehen von der Tätigkeit in dem rheinland-pfälzischen Gremium habe ich außerdem bereits im Europaparlament wie auch im Bundestag bei Anhörungen sprechen dürfen als Expertin.

    Stichwort Digitalisierung: Nach Ihrer Vereidigung am kommenden Montagabend berät der Stadtrat unter anderem über die Gründung einer Gesellschaft zum Aufbau eines Glasfasernetzes. Wie schwierig ist es, über komplexe Sachverhalte wie diesen in Gebärdensprache zu diskutieren?
    JULIA PROBST: Komplexe Sachverhalte sind auch für Hörende schwierig, wenn sie von einem Thema keine Ahnung haben. Die Gebärdensprache ist eine vollwertige Sprache, im Prinzip wie die gesprochene Sprache. Man kann sie aber einfacher verstehen, weil sie mit Bildern aufgebaut ist. Zufälligerweise ist die Digitalisierung genau mein Thema. Schnelles Internet ist für alle wichtig, für Menschen mit und ohne Behinderung. Das Internet hat viele Freiheiten gebracht.

    Die Stadtverwaltung setzt Gebärdensprachdolmetscher ein, damit Sie die Sitzungen wie alle anderen Teilnehmerinnen und Teilnehmer verfolgen können. Wie sehr schätzen Sie die Vorbereitungen und den bisherigen Kontakt mit der Stadtverwaltung?
    JULIA PROBST: Es ist super. Am Anfang dachte ich mir: "Oh je, jetzt muss ich als Gehörlose alles selbst organisieren." Doch die Stadtverwaltung organisiert Dolmetscher und übernimmt auch die Kosten. Mir wurde gesagt: "Machen Sie sich keine Sorgen. Wir haben einen Mitarbeiter, der sich darum kümmert." Das Einzige, was ich jetzt machen müsse, sei es, zu den Sitzungen zu kommen. Ich kann mich wirklich auf meine Aufgabe konzentrieren.

    Wie hoch sind in Deutschland die Hürden für gehörlose Menschen, in die Kommunalpolitik einzusteigen?
    JULIA PROBST: Die erste Barriere ist es, in eine Partei einzutreten. Da ist die Kommunikationsbarriere gleich vorhanden. Zum einen haben wir das Problem, dass es nach wie vor zu wenig Dolmetscher gibt. Zum anderen stellt sich gleich die Frage: Wer bezahlt das? Ich hatte im November einen Antrag gestellt auf persönliches Budget, damit ich Dolmetscher bezahlen kann. Aber diese Beantragung ist wirklich eine Katastrophe. Ich musste ein 40-Seiten-Formular ausfüllen. Weil ich gehörlos bin, habe ich ja einen Schwerbehinderten-Ausweis. Trotzdem müsste ich mir noch ein Facharzt-Gutachten einholen, um das zu bestätigen. Das muss man sich mal vorstellen! Ich finde, das muss einfacher gemacht werden. Das Thema Ableismus ist nach wie vor ein Problem, also die Diskriminierung aufgrund der Behinderung. Das hat man zuletzt am Gesetzentwurf für die Triage in Kliniken gesehen. Die Ärzte haben oftmals keine Behinderung und sind auch nicht geschult. Ich finde es schade, dass es im Medizinstudium nicht gefördert wird, ein Bewusstsein für Ableismus zu schaffen. Der zurückgezogene Gesetzesentwurf für die Triage in den Kliniken trug laut Berichten die Handschrift der FDP durch den Justizminister Marco Buschmann. Das geht gar nicht! Wie kann man öffentlich darüber nachdenken, dass Menschen mit Behinderung weniger wert sind? Mir kam das vor wie ein perfider Testballon, um zu sehen, wie die Gesellschaft darauf reagiert.

    Wie sieht es mit der Barrierefreiheit im Alltag aus?
    JULIA PROBST: Die FDP ist ja der Meinung, das regelt der Markt. Doch das tut er nicht, das muss gesetzlich verankert werden. Ich finde, dass zum Beispiel ein Café barrierefrei sein muss. Für die meisten ist dies das erste Argument: Es kostet so viel Geld. Aber der Kundenstamm wird automatisch größer, wenn das Café barrierefrei ist. Dann können zum Beispiel auch Eltern mit Kinderwagen dort hingehen. Diesen positiven Nebeneffekt übersieht man häufig.

    Worauf freuen sich bei Ihrer Tätigkeit als Stadträtin am meisten?
    JULIA PROBST: Darauf, dass ich eines zeigen kann: Es ist selbstverständlich, dass Menschen mit Behinderung in der Politik mitwirken können. Dass wir nicht nur als "Belastung" gesehen werden. Ich habe auch schon eine E-Mail bekommen mit dem Wunsch, inklusive Spielplätze in der Stadt einzurichten, wo behinderte und nicht behinderte Kinder gemeinsam spielen können. Es freut mich, dass ich mich für solche Wünsche einsetzen kann.

    Wofür möchten Sie sich denn neben der Inklusion noch einsetzen?
    JULIA PROBST: Ich interessiere mich auch für sozialen Wohnungsbau, gleichzeitig möchte ich die Natur schützen. In Bayern wird so viel Fläche bebaut. In Weißenhorn haben wir das Problem: Einerseits soll es natürlich und dörflich bleiben, andererseits haben wir viele Familien, die Platz brauchen. Wir sollten eine gute Balance schaffen. Gewundert habe ich mich im Übrigen über den Neubau von Aldi und Feneberg auf der Hasenwiese. Durch solche Bauten wird so viel Platz verschwendet. Warum hat die Stadt keine Auflagen gemacht, dass obendrüber Wohnungen gebaut werden?

    Sie sind als Bloggerin und Lippenleserin bekannt geworden. Werden Sie künftig ausführlich im Internet über Ihre politische Arbeit in Weißenhorn und die gewonnenen Erfahrungen berichten?
    JULIA PROBST: Ich bin bei Twitter aktiv und will mich jetzt auch um eine neue Homepage kümmern. Außerdem habe ich vor, mehr Gebärdensprach-Videos zu machen, um gehörlosen Jugendliche zu zeigen, dass die Politik auch für sie offen ist. Ich möchte das Thema weiter streuen, damit es ein bisschen selbstverständlicher wird. Man muss überlegen: Wie können Bund, Länder und Kommunen das fördern? Es würden, denke ich, mehr gehörlose Menschen politisch aktiv sein, wenn die Kommunikation gesichert wäre und zum Beispiel in kleineren Ortsverbänden Geld dafür da wäre, um die Dolmetscher zu bezahlen.

    Wie läuft denn die Kommunikation mit Ihrem künftigen Fraktionskollegen Ulrich Fliegel ab?
    JULIA PROBST: Ich kann relativ gut sprechen und gut Lippen lesen, zudem bin ich hörend sozialisiert. Wir nutzen auch Skype. Da bekomme ich die Untertitel angezeigt und kann das mitlesen. Das klappt super. Die Untertitel im Fernsehen, das muss ich an dieser Stelle mal sagen, sind grauenhaft. Da sind so viele Fehler drin. Die Technik ist total veraltet. Dabei sind auch viele Schwerhörige auf Untertitel angewiesen.

    Zur Person

    Julia Probst, 40, ist Beisitzerin im Kreisvorstand der Grünen in Neu-Ulm. Ihr Partner Thomas Worseck ist ebenfalls gehörlos. Das Paar hat ein vier Jahre altes Kind.

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