Es ist der Moment, der ihr Leben verändert: Die Polizei steht vor der Tür. Erst denken sie, es geht um falsches Parken. Doch als die Beamten ihnen nahelegen, sich zu setzen, merken sie, es muss etwas Schlimmeres passiert sein. "Was ist mit Tobias?", fragt Walter Högerle nach seinem 20-jährigen Sohn. "Ist er schwer verletzt?" Der Polizist schüttelt nur den Kopf. Tobias starb bei einem Verkehrsunfall. Die Todesnachricht zieht den Eltern den Boden unter den Füßen weg. Monate später kommt es wieder zu so einem Moment: Erst aus unserer Zeitung erfahren Monika und Walter Högerle, dass die Unfallverursacherin nicht vor Gericht kommt. "Ein Schlag ins Gesicht" für die Eltern.
Der tödliche Unfall ereignete sich am 1. Juni 2023. Tobias Högerle war gegen 19 Uhr auf seinem Motorrad von Oberroth in Richtung Babenhausen unterwegs, laut einem Sachverständigen mit circa 103 bis 117 Stundenkilometern. Eine damals 35-Jährige wollte nach links in Richtung Osterberg abbiegen und übersah den 20-Jährigen, der Vorfahrt hatte. Es kam zur Kollision, Tobias erlag noch an der Unfallstelle seinen Verletzungen. Die Verursacherin habe von sich aus gegenüber der Polizei angegeben, unter dem Einfluss von Medikamenten gestanden zu haben, berichten die Eltern. Zwar gab es ein Gutachten, bei der späteren Strafbemessung spielten die Medikamente aber keine Rolle. Es sei nicht nachweisbar gewesen, inwiefern sich diese zum Zeitpunkt des Unfalls auf die Fahrtüchtigkeit der Frau auswirkten. Die Eltern haben Zweifel.
Eltern fahren nach Heilbronn, um der Tochter vom Tod ihres Bruders zu erzählen
Die Familie saß an jenem Donnerstag noch gemeinsam beim Abendessen. Tobias' Mutter zog sich die Walking-Schuhe an und machte sich auf den Weg zur Laufgruppe. Dass sich ihr Sohn im Keller seine Bikersachen überzog, bekam sie nicht mit. Ohne es wirklich zu wissen, gehen die Eltern heute davon aus, dass er noch auf ein Eis nach Babenhausen wollte: "Das war im Sommer sein Lieblingsort." Doch dort kam er nicht an. Zum Unfallort durften die Eltern erst, als die Beweissicherung abgeschlossen war. Gegen 2.30 Uhr waren sie zum ersten Mal dort, wo ihr Sohn sein Leben verlor. Anschließend setzten sie sich ins Auto, fuhren nach Heilbronn. Dort lebt Tobias' sechs Jahre ältere Schwester Kerstin. Wie an einem normalen Tag ließen sie sie aufwachen, um ihr dann die Nachricht vom Tod ihres Bruders zu überbringen.
Seither versuchen sie, mit dem schweren Schicksal umzugehen. Als die Eltern in der Nacht am Unfallort standen, sei in dem Moment eine Sternschnuppe vom Himmel gefallen. Auf den Tag genau vier Wochen später sei ein doppelter Regenbogen dort gewesen. Lichtspiele, die zu Lichtblicken werden. Die Hinterbliebenen suchen einen Weg, mit der Trauer umzugehen. Monika Högerle kommt täglich zum Unfallort und bringt frische Blumen. Freunde stellten ein Birken-Kreuz auf. Arbeitskollegen frästen eine kleine Gedenkstätte. Tobias absolvierte ein Duales Studium zum Maschinenbauer, war bei der Feuerwehr in Weiler und leitete eine Taekwondo-Gruppe in Osterberg. Ein Schaffer, der noch viel vorhatte. Dessen Leben aber unerwartet beendet wurde.
Warum? Eltern des beim Unfall getöteten Tobias Högerle quälen Fragen
Nur, warum? Die Eltern quälen Fragen. Antworten erhofften sie sich aus den Ermittlungen, vor allem aus einem Prozess gegen die Verursacherin. Über ihren Rechtsanwalt Christian Bous aus Babenhausen beantragten sie Einsicht in die Akten. Früh schon hätten sie in Erwägung gezogen, in einer Gerichtsverhandlung als Nebenkläger aufzutreten. Der offizielle Antrag dazu sollte in Absprache mit dem Anwalt erst erfolgen, wenn alle Unterlagen samt Gutachten auf dem Tisch liegen. Das aber dauerte. Sechs Monate zogen ins Land, sechs Monate der Ungewissheit für die Eltern.
Dann ging es aber ganz schnell: Vom 24. bis 29. November waren die Akten bei der Staatsanwaltschaft "außer Haus". Am 29. November informierte der Anwalt die Eltern, dass alle Unterlagen da sind. Am 7. Dezember wurde das weitere Vorgehen besprochen. In einem Schreiben vom 18. Dezember wurde die Nebenklage bei der Staatsanwaltschaft beantragt. Doch bei der Strafverfolgungsbehörde galt der Fall da schon als erledigt. Am 5. Dezember wurde ein Strafbefehl beantragt. Das Gericht stimmte dem am 11. Dezember zu. Die 35-Jährige wurde wegen fahrlässiger Tötung zu einer Geldstrafe in Höhe von 150 Tagessätzen à 50 Euro verurteilt, zudem bekam sie ein zweimonatiges Fahrverbot. Einspruch legte sie nicht ein, somit kam es zu keiner Gerichtsverhandlung und der Fall war aus Sicht der Justiz abgeschlossen.
Tödlicher Unfall bei Osterberg: Eltern erfahren aus unserer Zeitung vom Verfahrensabschluss
Die Eltern erfuhren davon am 25. Januar aus unserer Zeitung. Ihr Nebenklage-Antrag vom 18. Dezember blieb unbeantwortet. Die Mutter erlitt einen Nervenzusammenbruch. Wie schon beim Tod ihres Sohnes seien sie wieder vor vollendete Tatsachen gestellt worden, fühlten sich abermals "ohnmächtig". "Der Tod unseres Sohnes - abgehandelt wie ein Strafzettel", sagen sie. Widerwillig haben die Eltern mittlerweile akzeptiert, dass den Behörden rein rechtlich nichts vorzuwerfen ist und das Vorgehen der geltenden Strafprozessordnung entspricht. "Auch mit der Strafe können wir inzwischen leben", so die Eltern. Ein Vorwurf aber bleibt: Spätestens mit dem Schreiben vom 18. Dezember hätte jemand auf die Idee kommen müssen, die Hinterbliebenen zu informieren. Auch um künftiges Leid bei Hinterbliebenen zu verhindern, fordern sie eine "bessere Informationspolitik".
Ein Sprecher der Staatsanwaltschaft Memmingen teilt mit, dass der Gesetzgeber eine solche "Unterrichtung" nicht vorsieht. Der Umgang mit Trauer sei zudem eine sehr persönliche Angelegenheit. "Nicht alle Hinterbliebenen möchten sich mit einem zurückliegenden Unfallereignis ihrer Angehörigen und einem sich anschließenden Strafverfahren beziehungsweise mit dessen Fortgang Monate später auseinandersetzen." Auch diese Bedürfnisse seien zu berücksichtigen. "Ein besonderes Informationsbedürfnis" sei im hiesigen Fall nicht ersichtlich gewesen. Der Antrag kam zu spät.
Rechtsanwalt Bous spricht von einer "Verkettung unglücklicher Umstände". Fristen gebe es nicht. Er habe aber daraus gelernt und wolle künftig die Staatsanwaltschaft früher kontaktieren. Ein Nebenklage-Antrag sei aber auch mit Kosten verbunden und ergebe erst Sinn, wenn alle Fakten vorliegen. Der Anwalt stellt infrage, inwieweit die Justiz überhaupt den Erwartungen von Hinterbliebenen gerecht werden kann. Gerade bei tödlichen Unfällen sei der Konflikt oft nicht zu lösen. Auch wenn es zum Prozess komme, machten Täter vor Gericht oftmals keine Angaben und ließen Fragen offen.