Sie nennen es "Spaziergang", doch es läuft ab wie eine Demonstration: Die Kritiker der Corona-Maßnahmen finden sich auch im Landkreis Neu-Ulm inzwischen regelmäßig zusammen, um ein Zeichen zu setzen gegen die Einschränkungen und den "Impfzwang". Am Freitag in Ulm waren es, wie berichtet, wohl so viele Menschen wie noch nie. Weil derartige Aktionen unangemeldet und ohne Leiter stattfinden, sind sie eigentlich nicht erlaubt. Doch Behörden und Polizei lassen sie zumindest in der Region gewähren. Aber warum? Und wird dem weiter so bleiben? Ein bekannter Vertreter der "Spaziergänger"-Szene warnt derweil seine Mitstreiter, nicht übermütig zu werden.
Aus dem Ulmer Rathaus heißt es am Montag, dass man am bisherigen Vorgehen festhalten möchte - auch trotz gestiegener Teilnehmerzahl und Kritik aus der SPD-Fraktion des Gemeinderates. "Wir behalten die Deeskalationslinie bei", so eine Sprecherin der Stadtverwaltung. Eine Verfügung, ein Verbot - alles, was zur Eskalation führen könnte, würde "den dahintersteckenden Organisationen in die Karte spielen". Genau das wolle die Stadt vermeiden. Die Sprecherin betont aber auch: "Es kann sich auch ändern." Zum Beispiel dann, wenn es doch zu Aggressionen kommen sollte. Oder eine Gegen-Demonstration angemeldet werde.
Corona-"Spaziergänge": Illertissens Bürgermeister Eisen tun die Polizisten leid
In Illertissen fanden am Sonntag gleich zwei "Spaziergänge" statt - auch sie sollen friedlich abgelaufen sein, heißt es seitens der Polizei. Etwa 300 Menschen waren am Vormittag unterwegs, nachmittags waren es erneut etwa 30 Leute, die sich am Marktplatz trafen und durch die Innenstadt liefen. "Solange die Beteiligten in der Stadt nichts kaputt machen und keine Verschmutzungen hinterlassen, sehe ich das ganz entspannt", sagt Bürgermeister Jürgen Eisen. Gleichwohl weiß er, dass sich viele Illertisser über die Veranstaltungen ärgern. In den Sommermonaten hatten angemeldete Corona-Demonstrationen Sonntag für Sonntag den Marktplatz belegt, sehr zum Ärger besonders der Anwohner. Das soll dieses Jahr nicht mehr passieren, kündigt Eisen an. "Wir wollen unter anderem mit der Konzertreihe Live im Sperrbezirk wieder auf den Marktplatz und brauchen die Fläche an den Wochenenden."
Das Recht zu demonstrieren sei ein hohes Gut, betont der Bürgermeister. Und die Regeln dafür mache schließlich nicht die Stadt, sondern das Landratsamt. Zumindest den Ort des Geschehens will die Stadt aber einschränken. "Wenn Demos angemeldet werden, können sie dann auf dem Festplatz stattfinden." Begeistert davon, dass die Spaziergänge ausgerechnet in seiner Stadt stattfinden, ist Eisen nicht. Zumal er glaubt, dass kaum Illertisser, dafür umso mehr Auswärtige dabei sind. "Man muss sich nur mal die ganzen Autokennzeichen anschauen, mit denen die Teilnehmer vorfahren, die Fahrzeuge kommen bis aus dem Kreis Ravensburg." Die Polizisten, die Woche für Woche in der Kälte stehen und die unangemeldeten Aktionen begleiten müssen, tun ihm dagegen einfach leid. Eisen: "Es gäbe so viel Wichtigeres für sie zu tun."
Polizei zu Corona-Demos: Absolut nicht geduldet wird Gewalt
Die Polizei selbst steht bei diesen Einsätzen immer wieder vor einer schwierigen Frage. Wie ein Sprecher des Polizeipräsidiums Schwaben Süd/West erklärt, prallen bei diesen Demos zwei Grundrechte aufeinander: Die Versammlungsfreiheit und das Recht auf Gesundheit, wofür die geltenden Infektionsschutzmaßnahmen eingehalten werden müssen. Und schließlich ist die Polizei auch dazu da, die Bedürfnisse weiterer Gruppen - wie Verkehrsteilnehmer oder Anwohner - zu schützen. Wann die Polizei eingreift und wann nicht, sei jedes Mal eine Einzelfallentscheidung. Absolut nicht geduldet werde Gewalt.
Das Neu-Ulmer Landratsamt sieht ähnlich wie die Stadt Ulm derzeit ebenfalls keinen Grund zum Handeln. Die "Spaziergänge", die bislang nicht angemeldet und somit auch nicht genehmigt waren, seien ja friedlich verlaufen. Daher sei - anders als zum Beispiel in Ravensburg - bis jetzt noch keine Allgemeinverfügung erlassen worden. Diese würden dazu dienen, aus dem Ruder gelaufene Versammlungen wieder einzufangen. Sie seien dort notwendig, wo sich die Teilnehmer an gar keine Vorschriften halten oder gegen Polizisten vorgehen würden. "Die Entwicklung wird aber natürlich genau im Auge behalten und die Suche nach den Verantwortlichen läuft", heißt es auch hier.
Polizei nimmt von mutmaßlichen Versammlungsleitern in Ulm die Personalien auf
Derweil hinterfragen und beobachten auch die "Spaziergänger" selbst weiter die Vorgehensweise der Gegenseite. Zumal - so heißt es zumindest in einer der Telegram-Gruppen der "Corona-Rebellen" - Personen bei der Demo am Freitag in Ulm von der Polizei mit auf das Revier genommen worden sein sollen. Ihnen sei demnach vorgeworfen worden, zur Gruppe der Veranstalter/Strippenzieher zu gehören. Die Ulmer Polizei bestätigt das. Von drei mutmaßlichen Versammlungsleitern seien die Personalien aufgenommen worden. Gegen sie werde wegen des Verdachts eines Verstoßes gegen das Versammlungsgesetz ermittelt. Es droht eine Geldstrafe oder Freiheitsstrafe von bis zu einem Jahr.
Auch der in der Szene bekannte Ulmer Rechtsanwalt Markus Haintz meldete sich in den sozialen Netzwerken zu Wort. Er analysierte das Vorgehen der Polizei. Die Beamtinnen und Beamten hätten aus seiner Sicht die Zusammenkunft gefilmt und Fotos zur Beweissicherung gemacht. Im Fokus sei dabei die Spitze des Protestzuges gestanden. Zudem sei "sauber dokumentiert" worden, dass die Abstände zu gering waren und keine Masken getragen wurden, um später Verbote erlassen zu können. Haintz gibt daher seinen Mitstreitern zu bedenken: "Selbst wenn die Polizei scheinbar nichts macht, arbeiten die Behörden immer im Hintergrund." Kommenden Freitag soll es wieder einen "Spaziergang" durch die Ulmer Innenstadt geben.