Ludwina Schedler ist eine Frau, die Mut macht und Ängste nimmt – denen, die vergessen, und denen, die mit dem Vergessen konfrontiert sind. Sie klärt über Demenz auf, eine Krankheit, die jeden direkt oder indirekt treffen kann. Die 61-Jährige arbeitet in einer von zwei Fachstellen für pflegende Angehörige im Landkreis Unterallgäu. Derzeit schult sie in Kettershausen künftige Demenzbegleiter. In Babenhausen bietet sie regelmäßige Sprechstunden und Gesprächskreise an. Was die Teilnehmer – abgesehen von Fragen bürokratischer Natur – besonders interessiert: Wie gehe ich respektvoll mit demenziell Erkrankten und deren oftmals schwierigen Verhaltensweisen um? Eine Suche nach Antworten – am Beispiel der fiktiven Familie Müller.
Das Telefon klingelt, die Sprechstundenhilfe ist dran. Ach, der Arzttermin! Frau Müller will schnell los, nur wo ist der Haustürschlüssel...
Sich nicht mehr gut organisieren und an Zeitpläne halten zu können, kann auf eine Demenz hindeuten. Ludwina Schedler rät Angehörigen, mögliche Betroffene genau zu beobachten und eine größere Sensibilität für veränderte Verhaltensweisen zu entwickeln. Kleben Zettel mit Gedankenstützen an den Schränken? Liegen die Kochlöffel, entgegen einer jahrelangen Hausfrauenroutine, nicht in der Schublade, sondern in der Waschmaschine? Sucht der oder die Betroffene häufig nach Worten als hätten sich diese im Kopf versteckt? Schedler erinnert sich beispielsweise an einen Mann, der noch mitten im Berufsleben stand, als er an Alzheimer erkrankte. Der Kfz-Mechaniker konnte plötzlich Teile nicht mehr benennen, die er schon Hunderte Male verschraubt hatte.
Viele Betroffene treten einen "typischen Rückzug" an
Sonntäglicher Kaffeeklatsch. Familie Müller isst Torte. Die Enkelin erzählt vom Wochenendtrip, der Schwiegersohn vom neuen Arbeitskollegen. Frau Müller sagt nichts.
Hinter einer solchen Situation kann sich ein „typischer Rückzug“ verbergen, sagt Schedler. Wer an Demenz erkrankt ist, nehme nicht mehr wie üblich an Gesprächen teil. Manche werden still, andere bringen immer dieselben Geschichten, Floskeln oder alten Sprichwörter ein, wenn sie den Faden verloren haben. „So werden Brücken im Gespräch gebaut. Eine Frau im Pflegeheim sagte immer: Wenn du meinst, es geht nicht mehr, kommt von irgendwo eine Schwester her“, erinnert sich Schedler. Ihr Ratschlag: Betroffene bewusst einbeziehen und ansprechen – „Oma, erzähl doch mal...“ Außerdem auf Augenkontakt achten: Wirkt er oder sie abwesend? Auch ein Hörtest empfiehlt sich; vielleicht gibt es einen ganz anderen Grund für die Zurückhaltung in der Gesprächsrunde als vermutet. Auf einen Rückzug hindeuten kann laut Schedler auch, will der oder die Betroffene nicht mehr gerne an Seniorennachmittagen oder Ausflügen teilnehmen.
Die Tochter hackt auf den schmutzigen Tassen im Schrank herum. Frau Müller wird pampig. „Jetzt reicht’s!“, faucht sie und haut mit der Faust auf den Tisch.
Manche Betroffenen fühlen sich in Situationen wie dieser geradezu ertappt, auch schnell bevormundet. Sie wollen sich nicht die Blöße geben und zugeben: Ich erinnere mich nicht an dieses oder jenes. Oder: Ich kann das allein nicht mehr. Diese Erkenntnis mache nämlich „unheimlich viel mit dem Menschen“, weiß Schedler. Die Betroffenen sind vielleicht selbst erschreckt oder haben Angst vor dem, was ist und noch kommt. Manche reagieren mit der Zeit aggressiv, manche werden depressiv. Es gebe auch Menschen, die Distanz in der Öffentlichkeit verlieren oder obszön werden.
Es gibt verschiedene Formen von Demenz
Gedankenkarussell. Die Tochter windet sich: Soll ich meine Mutter auf ihre mögliche Demenz ansprechen – die Frau, die ein Leben lang stark war?
„Das Wort Demenz in den Mund zu nehmen, ist eine schwierige Sache“, sagt Schedler. Sie rät, nicht mit der Tür ins Haus zu fallen: „Man sollte es vermeiden, jemanden bloßzustellen, sondern besser sagen: Komm, machen wir das gemeinsam.“ Eine Möglichkeit sei es, eine ärztliche Untersuchung vorzuschlagen, um einen Dritten ins Boot zu holen – notfalls unter einem Vorwand. Eine Diagnose, um welche Art Demenz es sich handelt, gibt Aufschluss über Behandlungsmöglichkeiten. Denn Demenz kann verschiedene Ursachen haben. Man unterscheidet zwischen primären und sekundären Formen. Bei ersteren beginnt der Krankheitsprozess direkt im Gehirn. Ein Beispiel ist Alzheimer. Sekundäre Demenzen können etwa mit Schilddrüsenerkrankungen oder Tumoren zusammenhängen.
Der Blick auf den Herd macht die Tochter nervös. Was, wenn die Mutter einmal den Suppentopf auf der heißen Platte vergisst? Und dann ist da immer noch das Auto, das in der Garage steht...
Wie lange Demenzkranke eigenständig Zuhause leben können, ist individuell. „Wenn man ihnen ein Gerüst baut und Struktur gibt, kann das relativ lange sein“, sagt Schedler. Angehörige können dabei auch auf Unterstützungsangebote wie Essen auf Rädern oder die Tagespflege zurückkommen. Im Haushalt können sie Vorkehrungen treffen, etwa den Herd abklemmen oder elektrische Geräte aus der Küche verbannen. Schwierig gestalten, so Schedlers Erfahrung, kann sich die Sache mit dem Autofahren. Denn mit dem Führerschein nimmt man vielen ein großes Stück Mobilität. „Im Familienkreis kommt man da oft nicht weit“, sagt die Fachfrau. Auch hierbei könnten Dritte unterstützen, die sagen: „Sie reagieren nicht mehr schnell genug, Sie fahren viel zu langsam, das ist gefährlich für andere Verkehrsteilnehmer.“ Angehörige könnten Trainingsstunden bei einem Fahrlehrer vorschlagen.
Familie Müller hat das Spazieren gehen für sich entdeckt. Es tut Körper und Kopf gut, an der frischen Luft zu sein.
Fortschreitende Demenz allein mit Spazieren gehen hinauszuzögern, ist leider nicht möglich. Aber Aktivitäten wie diese können der Vorbeugung dienen, um wahrscheinlich nicht so schnell an Demenz zu erkranken. „Bewegung ist gut, sich geistig fit zu halten und am Leben teilzunehmen“, sagt Schedler. Es gebe viele Möglichkeiten, zum Beispiel Sudoku-Rätsel zu lösen, gemeinsam Karten zu spielen, zu tanzen oder im Chor zu singen. Natürlich sollten auch Risikofaktoren wie das Rauchen, Alkoholkonsum und Bewegungsarmut vermieden werden. Medikamente könnten bei bestimmten Demenzformen und wenn sie zum Betroffenen passen eine Verschlechterung um ein paar Jahre hinausziehen.
Interesse an Beratungsangeboten zum Thema Demenz nimmt zu
Familien bei den Herausforderungen des Alltags zu unterstützten, ist ein Anliegen der Fachstellen für pflegende Angehörige. Und das Interesse an den Beratungsangeboten wird immer größer, berichtet Ludwina Schedler. Ein Grund sei wohl, dass die Zahl der Betroffenen einhergehend mit dem demografischen Wandel steigt. Die Leute werden immer älter. Und auch wenn Demenzerkrankungen vor dem 50. Lebensjahr möglich sind: Die Wahrscheinlichkeit nimmt mit dem Alter zu. Hinzu komme, dass die Gesellschaft heutzutage anders mit dem Thema Demenz umgehe. „Früher hieß es halt, der spinnt“, sagt Schedler, die gerne Klartext spricht. Das sei nun zum Glück anders.
Pro Jahr stemmt Schedler 1200 Beratungen und macht 200 bis 300 Hausbesuche. Ihr Zuständigkeitsgebiet umfasst das komplette westliche Unterallgäu – von Bad Grönenbach bis Kettershausen, von Legau bis Kammlach. „Ich bin gut organisiert, aber ich komme schon an meine Grenzen“, sagt sie. Gefördert werden die Angebote vom bayerischen Staatsministerium für Familie, Arbeit und Soziales, vom Landkreis und den Kommunen. Sie sind daher kostenfrei.
Der aktuell laufende Demenzbegleiter-Kurs in Kettershausen hat 16 Teilnehmer. In der Regel sitzen in den Gruppen Frauen und Männer zwischen 40 und 70 Jahre. Jeweils zur Hälfte sind es Angehörige und Interessierte, die ehrenamtlich oder beruflich mit Demenz in Kontakt kommen. „Ich hoffe immer, dass pro Kurs ein paar bleiben, die sich danach engagieren wollen. Die dann zum Beispiel in Haushalte gehen und Angehörige entlasten, damit die mal wieder Zeit haben, im Garten zu arbeiten oder sich mit Freunden zu treffen.“
Wer Kontakt mit der Fachstelle für pflegende Angehörige mit Sitz in Ottobeuren aufnehmen will, kann sich per E-Mail an l.schedler@amb-krankenpflege-ottobeuren.de sowie unter Telefon 08332/9237424 melden.
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