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Atomkatastrophe von Tschernobyl: Die Angst vor Erdbeeren
![Tschernobyl 1986: Das zerstörte Atomkraftwerk nahe der ukrainischen Stadt Prypjat nach der Explosion in Block vier. Das Dach des Meilers, in dem sich 180000 Tonnen hoch radioaktives Material befanden, wird zerstört. Tschernobyl 1986: Das zerstörte Atomkraftwerk nahe der ukrainischen Stadt Prypjat nach der Explosion in Block vier. Das Dach des Meilers, in dem sich 180000 Tonnen hoch radioaktives Material befanden, wird zerstört.](https://www.augsburger-allgemeine.de/resources/1715673836705-1/ver1-0/img/placeholder/16x9.png)
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Im April 1986 explodierte der Reaktor in Tschernobyl. Zeitzeugen blicken auf die Jahrhundertkatastrophe zurück und erinnern sich an die Verunsicherung, die damals herrschte.
Es schien, als sei alles normal, in jener letzten Aprilwoche im Jahr 1986. Siegfried Grotz genoss die erste warme Frühlingssonne auf dem Tennisplatz. Und auch ein Regenschauer, der ihn erwischte, war ganz normal. April eben. Was Grotz zu diesem Zeitpunkt nicht wusste: Normal war nichts. Vor allem nicht der Regen. Denn einige Tage zuvor, am Samstag, 26. April, hatte sich eine Explosion in Block vier des ukrainischen Kernkraftwerkes Tschernobyl ereignet. Eine radioaktiv belastete Wolke war nach Westen getrieben und hatte sich über Süddeutschland abgeregnet.
1986 war Siegfried Grotz Inhaber der Illertisser Linden-Apotheke. „Wir wussten ja erst mal von nichts. Da wurde alles vertuscht.“
Die Illertisser Zeitung meldete drei Tage nach dem Unglück: „Schwerer Unfall in einem Atomkraftwerk bei Kiew – Reaktor beschädigt – offenbar auch Menschen betroffen“. Als dann bekannt wurde, dass die erhöhte Strahlung auch in Deutschland messbar sei, gab es einige, die bei Apotheker Grotz Jod-Tabletten kauften, um die Schilddrüse gegen die Strahlen zu schützen. „Die meisten haben aber darauf verzichtet. Man hätte das Jod in so großen Dosen nehmen müssen, dass es schwere Nebenwirkungen gehabt hätte“, erzählt Grotz.
Vor allem um die Kinder machten sich die Menschen Sorgen. „Wir haben in allen Sandkästen im Kindergarten und auf den Spielplätzen den Sand ausgetauscht“, erzählt Roland Bürzle, stellvertretender Landrat, der 1986 Bürgermeister von Bellenberg war.
Auch die Angst, dass im Kernkraftwerk Gundremmingen im Landkreis Günzburg etwas vorfallen könnte, war laut Bürzle in der Bevölkerung aufgekeimt. „Wir können uns einfach nicht zu 100 Prozent sicher sein. Das hat Tschernobyl gezeigt und das zeigt auch die aktuelle Lage in Japan“, sagt Bürzle. „Ich bin gegen die Atomkraft. Es gibt so viele andere Möglichkeiten, wir müssen sie nur nutzen.“
Auch Otto Hermann, Kreisobmann des Bayerischen Bauernverbandes, erinnert sich noch gut an den Frühling vor 25 Jahren. An das Aufstellen des Maibaums und die zünftige Feier, als sich die atomare Wolke über Deutschland schob. „So richtig hat keiner gewusst, was los ist.“ Hermann war damals 40 Jahre alt und hatte einen Hof in Steinheim. „Wir hatten eine Jungviehweide und ich erinnere mich, dass wir die Rinder nicht rausgelassen haben“, erzählt er. „Und wir haben ihnen auch kein frisches Grünzeug gefüttert.“
Hermanns Vorgänger, der damalige Kreisobmann des Bauernverbandes Hermann Karrer, sah sich 1986 mit einem Informationswirrwarr konfrontiert: „Eine größere Verunsicherung hat es noch nie gegeben und die Leidtragenden waren wie immer die Bauern“, klagt er am 30. April 1986 in der Illertisser Zeitung. Und Bauernverbandsdirektor Franz Seitz betonte in derselben Ausgabe, dass sehr bald klar wurde, dass die Landwirtschaft nachhaltig betroffen sei. „Die Verunsicherung wirkt beim Verbraucher auf unheimliche Weise.“
So wie auf Sigrun Harting. Auf ihrem Bummel über den Illertisser Wochenmarkt hat sie damals vor 25 Jahren nur Bananen, Eier und Äpfel in ihrer Einkaufstasche. Salat und Erdbeeren traute sie sich nicht zu kaufen. „Wir essen sonst sehr viel Gemüse“, sagt die Hausfrau aus Au 1986 gegenüber unserer Zeitung. „Normalerweise trinken wir in der Familie auch zehn Liter Frischmilch pro Woche, jetzt keinen Tropfen mehr“, sagte sie damals. Die heute 68-Jährige berichtet von der damaligen Angst. „Ich wusste nicht so recht, was man noch bedenkenlos zu sich nehmen kann. Mein Sohn hat mich dann aufgeklärt und ich habe angefangen, viel bewusster zu essen.“ Das ist auch heute noch so. „Ich kaufe meist Bio-Produkte ein.“
Die Angst der Kunden haben die Händler auf dem Markt deutlich zu spüren bekommen. In der ersten Maiwoche 1986 war der Umsatz an Obst und Gemüse um bis zu zwei Drittel zurückgegangen.
Auch auf die Bellenberger Gärtnerei Zeller hatte die Atomkatastrophe in Tschernobyl Auswirkungen. Ernst Zeller erinnert sich noch ganz genau an den Frühling im Jahr 1986. Die Gärtnerei hatte sich gerade eine neue Erdtopfpresse angeschafft und begonnen, Kohlrabi und Salatpflanzen anzubauen. „Vieles davon mussten wir auf den Kompost werfen“, sagt Ernst Zeller heute. „Die Leute haben einfach weniger gekauft.“
Das alles ist 25 Jahre her, erscheint aber nach der Katastrophe in Fukushima aktueller den je. Dass er damals im sauren Regen unterwegs war, nimmt Apotheker Siegfried Grotz heute gelassen. Wenn er aber an die Menschen in Japan denkt, wird er ernst. „Die Situation ist sehr besorgniserregend. Da kommen natürlich die Gefühle von damals wieder hoch.“
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