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Babenhausen: Claudia Roth im Interview: "Sich einmischen - das ist Demokratie"

Babenhausen

Claudia Roth im Interview: "Sich einmischen - das ist Demokratie"

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    Die Grünen-Politikerin Claudia Roth (Jahrgang 1955) stammt aus Babenhausen und ist seit 2013 Vizepräsidentin des Deutschen Bundestages.
    Die Grünen-Politikerin Claudia Roth (Jahrgang 1955) stammt aus Babenhausen und ist seit 2013 Vizepräsidentin des Deutschen Bundestages.

    Frau Roth, das Grundgesetz, das Fundament unseres Zusammenlebens, wird im Mai 70 Jahre alt. Haben Sie ein Exemplar zu Hause und wo bewahren Sie es auf?

    Claudia Roth: Ich habe Grundgesetze in Taschenbuchformat an diversen Schreibtischen, zum Beispiel im Bundestag, in meiner Wohnung in Augsburg und Berlin. Es lohnt sich, immer mal wieder einen Blick ins Grundgesetz zu werfen, um zu begreifen, was für ein unglaublicher Reichtum es für unsere Demokratie bedeutet.

    Was macht diesen Reichtum aus?

    Roth: Ich finde, dass unser Grundgesetz, die deutsche Verfassung, schon ganz besonders beginnt. Im ersten Satz heißt es nämlich nicht, dass Deutschland ein Bundesstaat oder ein Rechtsstaat ist. Sondern es stellt den einzelnen Menschen in den Vordergrund: Die Würde des Menschen ist unantastbar.

    War das auch der erste Satz, den Sie aus dem Grundgesetz kennengelernt haben? Während Ihrer Jugend in Babenhausen vielleicht?

    Roth: Ich komme aus einer Familie, die immer sehr politisch war, in der es eine große Neugier gab und in der viel gesprochen wurde. In der Tat hat die Bedeutung der Grundrechte bei uns zu Hause eine Rolle gespielt. Unser Vater hat uns erklärt, welche Bedeutung der Satz „Die Würde des Menschen ist unantastbar“ in sich trägt. Auch, dass der Mensch in dem Satz ohne Adjektiv auskommt. Da steht eben nicht: die Würde des deutschen, des männlichen oder des nicht behinderten Menschen. Und so haben unsere Eltern uns auch als Menschen erzogen und nicht als Mädchen, die hoffentlich mal einen Mann kriegen (lacht).

    Wie sich die Grünen beim Landesparteitag gezeigt haben: Landesparteitag: Die Grünen geben sich so selbstbewusst wie die CSU

    Sehen Sie das 70-jährige Bestehen des Grundgesetzes als Anlass zum Feiern?

    Roth: Der 23. Mai geht leider ein bisschen unter, einige scheinen das Grundgesetz als etwas Selbstverständliches zu betrachten. Aber drei Tage vor der Europawahl am 26. Mai sollten wir nicht glauben, dass heutzutage noch etwas selbstverständlich oder normal ist. Schauen wir nur über den Atlantik in die USA oder nach Brasilien, dort sind Präsidenten durch demokratische Wahlen an die Macht gelangt, denen die Würde des Menschen ziemlich schnuppe ist. Sie sind rassistisch, homophob und frauenfeindlich, der brasilianische Präsident möchte die Indigenen seines Landes entrechten. Auch darum stehen wir in Europa vor der vielleicht wichtigsten Wahl, die es seit vielen Jahren gegeben hat. Umso bedeutender ist es, die Werte unseres Grundgesetzes zu unterstreichen und hochzuhalten.

    Welche Werte, die im Grundgesetz verankert sind, halten Sie für zentral?

    Roth: Da wären die Meinungsfreiheit, die Freiheit der Presse und der Kunst, das Demonstrationsrecht, das Grundrecht auf Asyl. Es geht um gleiche Rechte und nicht ein bisschen gleiche Rechte. Diese Werte machen uns stark, darum müssen wir sie in einer Welt, in der Demokratiefeinde und Rechtsstaatsverächter unterwegs sind – auch innerhalb Europas –, verteidigen. Auch in unserer Gesellschaft haben wir es mit politischen Gruppierungen zu tun, die einen Angriff auf die Demokratie und ihre Institutionen fahren.

    Am Samstag sprechen Sie und Konstantin von Notz in der Babenhauser Jugendbildungsstätte zu den Themen 70 Jahre Grundgesetz und Europawahl. Welche Botschaft wollen Sie den Zuhörern mit auf den Weg geben?

    Roth: Dass wir uns zu Verfassungsschützern und -schützerinnen erklären sollten, unabhängig von der Parteizugehörigkeit oder der Nähe zu einer Partei. Und: Dass es wichtig ist, zur Europawahl zu gehen. Auch Konstantin von Notz ist leidenschaftlicher Demokrat. Gerade als Netzexperte bereiten ihm Angriffe auf die Demokratie große Sorgen, darum ist er engagiert darin, aufzudecken, ob und wie zum Beispiel Einflussnahmen auf Wahlen geschehen oder wie versucht wird, zu manipulieren und Stimmung zu erzeugen.

    Das Grundgesetz wurde am 23. Mai 1949 ausgefertigt und verkündet. Verfasst wurde es zuvor innerhalb weniger Tage. Ein Ort in Bayern spielte eine zentrale Rolle ...

    Roth: Die Vorarbeit für unser Grundgesetz ist im Verfassungskonvent auf Herrenchiemsee im Augustiner-Chorherrenstift gemacht worden. Viele Menschen besuchen das Ludwigsschloss, aber einer der vielleicht wichtigsten Orte unserer jüngeren Geschichte liegt gleich nebenan auf der Insel und ist einen Besuch wert. Die Delegierten des Konvents haben sich dort nach dem Schrecken des Nationalsozialismus zusammengesetzt und mit dem Grundgesetz eine Antwort auf den Terror formuliert: Nie wieder!

    Das Grundgesetz wurde zunächst als Übergangslösung gesehen. Wieso hat es so lange Bestand – auch nach der deutschen Wiedervereinigung?

    Roth: Ich glaube, dass wir gut daran getan haben, unsere Geschichte nicht zu verdrängen. Dass wir daraus die Kraft ziehen, unsere Demokratie tagtäglich zu festigen. Nach der Wiedervereinigung haben sich viele aus der ehemaligen DDR einen gemeinsamen Verfassungsprozess als Neuanfang erhofft. Dennoch glaube ich, dass wir mit dem Fundament unserer Verfassung gut leben – und das schließt ja nicht aus, dass wir auf ihr aufbauen und sie erweitern können.

    Hat sich auf dem Grundgesetz auch etwas Staub abgesetzt?

    Roth: Das Grundgesetz ist ja nichts, auf das man vor 70 Jahren einen Deckel gesetzt hätte. Es ist ein lebendiges Konstrukt. Es ist wichtig, den Kern zu schützen – aber es wurde auch immer wieder erweitert, wie der Artikel 3, indem die sexuelle Identität aufgenommen wurde. Lesen Sie auch, über was sich Claudia Roth ärgert: Frauenmangel und sexistische AfD-Sprüche ärgern Claudia Roth

    Welche Bereiche kommen zu wenig vor? Kritiker nennen etwa die Digitalisierung.

    Roth: Ja, im gesamten Bereich der Digitalisierung und künstlichen Intelligenz hinken wir noch hinterher. Diese Politikfelder müssen wir auf der Grundlage des Wertefundaments des Grundgesetzes weiterentwickeln. In Anbetracht der riesigen Herausforderungen, die aufgrund der Klimakrise auf uns zurollen, wäre es allerdings wichtig, sich verbindlich zum Klimaschutz zu verpflichten und die Vereinbarungen aus den internationalen Verträgen auch im Grundgesetz zu verankern.

    Welchen Bezug haben die Menschen zum Grundgesetz? Wie hat sich dieser verändert über die Jahrzehnte hinweg?

    Roth: Ich habe manchmal die Sorge, dass wir die hohe Bedeutung und den Wert des Grundgesetzes nicht ausreichend vermitteln – so, wie unsere Eltern es an uns weitergegeben haben. Für sie war nach dem Nationalsozialismus der Wille sehr präsent: Wir wollen in einer starken Demokratie leben! Gleichzeitig sehe ich mittlerweile jeden Freitag massenhaft junge Menschen an meinen Büroräumen im Bundestag vorbeiziehen, die uns mahnen: Verzockt nicht unsere Zukunft! Ihnen geht es ums Klima – aber eben auch um Demokratie. Demokratie lebt nicht davon, dass man sie von oben herab diktiert und delegiert, sondern davon, dass man sie mitgestaltet und Tag für Tag für sie kämpft. Sich einmischen – das ist Demokratie. Wer wie ich im Bundestag sitzt, darf sich nicht wegsperren in eine Zitadelle der Macht, sondern sollte sich als Vertreter und Beauftragter einer starken Zivilgesellschaft sehen.

    Haben Sie das Grundgesetz mal als Blockade oder Bremse empfunden?

    Roth: Um das Grundgesetz ändern zu können, braucht man eine Zwei-Drittel-Mehrheit – da sind hohe Hürden gesetzt. Es ist gut, dass man nicht handstreichartig Änderungen vornehmen kann, sondern Kompromisse finden und Mehrheiten generieren muss. Als Blockade habe ich das Grundgesetz noch nie empfunden. Aber selbstkritisch würde ich mir heute sagen, dass mir lange Zeit nicht in der Deutlichkeit bewusst war, welche Kraft, welche Bedeutung das Grundgesetz für unsere Demokratie und Gesellschaft hat. Das ist heute anders. Darum sage ich noch einmal: Das Wichtigste ist, dass die Verfassung bei uns mit dem Individuum anfängt und nicht damit, wie sich der Staat definiert. Die Würde des Menschen zu achten, muss alles verbinden, muss der Konsens unserer Demokratie sein.

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