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Multimedia-Reportage: Der Zerfall der Alten Bleiche in Altenstadt: So sieht es im Inneren aus

Multimedia-Reportage

Der Zerfall der Alten Bleiche in Altenstadt: So sieht es im Inneren aus

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    Die Alte Bleiche in Altenstadt ist um das Jahr 1650 herum erbaut worden. Nun droht der Abriss.
    Die Alte Bleiche in Altenstadt ist um das Jahr 1650 herum erbaut worden. Nun droht der Abriss. Foto: Alexander Kaya

    Von den Wänden blättern unzählige Schichten bunter Tapeten ab: Blumenmuster, gelbe Kreise, graues Papier, in Fetzen abgerissen. Sie gehören zu den wenigen Spuren der früheren Bewohner. Ein Wohnhaus der kleinen Leute, der Fabrikarbeiter und Handwerker: Die Geschichte der Alten Bleiche mag so reich sein wie die bedeutender historischer Gebäude. So gut dokumentiert ist sie allerdings nicht. Ein neues statisches Gutachten durchkreuzt nun die Pläne der Marktgemeinde für eine Sanierung, der Abriss wird immer wahrscheinlicher. Eine der letzten Bewohnerinnen des Hauses würde das befürworten, ebenso wie ein Altenstadter Hobby-Historiker. Unser multimedialer Rundgang durch das marode Gebäude zeigt, wie fortgeschritten der Zerfall schon ist.

    Das ehemalige Wohnhaus an der Memminger Straße ist massiv beschädigt

    Alwin Müller steigt mit vorsichtigen Schritten die Treppe des Hauses hinauf. Unter seinen Füßen knirscht abgebröckelter Putz. Kaum jemand kennt die historischen Gebäude Altenstadts wie er, vor allem die der ehemaligen jüdischen Gemeinde. Er hat alles über das ehemalige Wohnhaus an der Memminger Straße gesammelt, was er finden konnte: schwarz-weiß Fotos, Listen voriger Besitzer, früheste Aufzeichnungen. „Viel ist es nicht“, sagt er.

    Je höher man die Treppen hinauf steigt, desto älter scheint das Gebäude zu werden. Die Tapeten verschwinden, der Boden ist aufgerissen, aus den Wänden quellen Kabel hervor. Im Dachgeschoss offenbart die Alte Bleiche einen besonderen Einblick in ihre Struktur. Eine Wand ist aufgerissen und legt ein Flechtwerk aus Ästen frei, bedeckt mit Lehm und Stroh. „Das könnte tatsächlich ein ursprünglicher Teil des Gebäudes sein“, sagt Müller.

    Die Bleiche in Altenstadt wurde zunächst von Juden bewohnt

    Das Haus wurde um 1650 als Bleiche am Mühlbach gebaut, wie Müller erzählt. Arbeiter breiteten die zu bleichenden Stoffe im Gras aus und hielten sie nass, die Nähe zum Wasser war hier von Vorteil. Die Bleiche war 70 Jahre in Betrieb, bis sie zu einem Wohnhaus umgewandelt wurde. Jüdische Familien zogen ein.

    Dieses "Schiebebild" zeigt eine Katasteraufnahme des Jüdischen Viertels in Altenstadt Mitte des 19. Jahrhunderts sowie ein aktuelles Luftbild. Auf der historischen Aufnahme ist noch die Synagoge und auch die Alte Bleiche zu sehen.

    Bis auf das Plätschern des Mühlbaches und den Schritten von Müller ist es ruhig in der Alten Bleiche. Das Haus macht keine Geräusche, nichts knarzt, die alten Balken ächzen nicht. Schon über die christlichen Bewohner des Hauses weiß man wenig, nahezu keine Informationen gibt es über die Juden, die darin lebten. Müller erklärt warum: „Die israelitische Kultusgemeinde von Altenstadt kümmerte sich um die Belange der Juden, nur beim Streitfall ging das ans Gericht.“ Die Dokumente bewahrte die jüdische Gemeinde in der ehemaligen Synagoge auf.

    Viele Dokumente sind vermutlich mit der Altenstadter Synagoge zerstört worden

    „Wahrscheinlich sind alle Akten mit der Synagoge zerstört worden“, sagt Müller, der in Altenstadt auch Führungen durch das ehemalige jüdische Viertel anbietet. Seine Stimme klingt bitter, wenn er über das ehemalige Gotteshaus dort spricht. „Das war einmal die schönste Dorfsynagoge in ganz Bayern.“ Er erinnert sich noch an die Zeit vor 1955, als sie noch stand: „Wir haben als Kinder oft dort gespielt.“

    Die Alte Bleiche hingegen ist für ihn keines der wichtigen historischen Gebäude Altenstadts. „Sie liegt praktisch auf dem letzten Platz“, sagt der ehemalige Lagerverwalter. Er geht ohne Sentimentalität durch das Haus, bleibt vor einem Raum mit durchgeweichtem Boden stehen. „Die Menschen hatten keine gute Zeit hier.“

    Das Verhältnis zwischen den christlichen und jüdischen Bewohnern war gut

    In der Alten Bleiche lebten vorwiegend Ärmere. „Das waren schon immer Sozialwohnungen“, sagt Müller. Ab 1848 zogen auch Christen in das Haus, da Juden vermehrt in die Städte abwanderten. Das Verhältnis zu den jüdischen Mitbewohnern war gut. Die Familien nutzten die Flure gemeinsam, die Räume einer Wohnung waren teilweise auf verschiedene Stockwerke verteilt.

    Im Dachgeschoss, zwischen aufgebrochenen Wänden und wackeligen Dielen, liegt ein nahezu unversehrter Raum. Silbrig-blaue Tapete, staubiger Holzboden, über dem Fenster eine fein gedrechselte Gardinenstange: „Das war wahrscheinlich ein Schlafzimmer“, vermutet Müller. Vor der Tür hängt ein kleines Kreuz aus Bronze. Der Hobbyhistoriker schmunzelt. „Das ist beim Aufräumen wahrscheinlich übersehen worden.“

    Über die ehemaligen Bewohner der Alten Bleiche gibt es nicht viele Informationen

    Ab 1813 sind die Eigentümer der acht Wohnungen dokumentiert. Müller zeigt ein Beispiel: „Haus Nr. 50 b, Bleiche, 5. April 1813: Judenwitwe Magdalena Löw“ steht in den Unterlagen, die Müller zusammengesucht hat. Es folgt eine Auflistung der dazu gehörigen Räume, Anteile am Dachboden, Garten und der Holzhütte. Mehr weiß man nicht über die Bewohner. „Es hatte niemand eine besondere Lebensgeschichte“, sagt Müller.

    Vor allem für die jüdischen Einwohner Altenstadts sei das Leben hart gewesen. „Sie waren generell eher arm.“ 1939 wurden die Juden der kleinen Gemeinde in einem Haus zusammengepfercht, drei Jahre später in Konzentrationslager abtransportiert. „Da waren auch vier ehemalige Bewohner der Bleiche dabei“, sagt Müller.

    Das statische Gutachten offenbarte massivste Schäden

    An manchen Stellen im Haus, auf Balken mit Wurmlöchern, an bröckeligen Wänden und Türrahmen, kleben weiße Sticker. „Die sind vom statischen Gutachten“, erklärt der Hobby-Historiker. Die Ergebnisse des Gutachtens sind vernichtend, aber nach einem Rundgang durch das Gebäude wenig überraschend. Zum Mühlbach hin senkt sich das Haus um einen halben Meter ab, die Flure sind schief, die ganze innere Struktur hat sich verzogen. Die Alte Bleiche zerfällt und die Schäden sind kolossal.

    Um sie zu sanieren, müsste das Fundament in einem aufwendigen Verfahren stabilisiert werden. Das würde eine Million Euro kosten. Dann würde das Gebäude zwar sicher stehen, aber es wäre noch in demselben, schadhaften Zustand wie zuvor. Im Moment stehen weitere Gespräche mit dem Landesamt für Denkmalpflege und der Städtebauförderung an, ob höhere Zuschüsse möglich sind.

    Der Hobby-Historiker ist gegen eine Sanierung der Alten Bleiche

    „Eine Sanierung ist nicht sinnvoll“, sagt Müller entschieden. „So leid es mir tut – das ist rausgeschmissenes Geld.“ Der Marktrat hatte sich einen Bürgersaal in der Alten Bleiche vorgestellt, was mit der derzeitigen, kleinteiligen Raumordnung nicht vereinbar ist. „Zudem sind die Decken zu niedrig, der Lichteinfall zu schlecht.“

    Hildegard Stöhr ist eine der letzten lebenden Bewohnerinnen der Alten Bleiche. Sie wohnte mit ihren Eltern und vier Geschwistern im Erdgeschoss, direkt neben dem Mühlbach. Die 86-Jährige erinnert sich an ihre Kindheit. „Es war eine schöne Wohnung.“ Mit den anderen Kindern des Hauses war sie jeden Tag zur Schule nach Illereichen gelaufen oder hatte am Bach gespielt. „Wir hatten viel Freiheit, das haben wir gebraucht.“

    Eine der letzten Bewohnerinnen spricht über ihre Kindheit

    Ihr Vater arbeitete damals bei der Firma Winkle in Altenstadt, ihre Mutter erledigte Heimarbeit. Als die Familie umzog, sei sie traurig gewesen. „Wenn ich jetzt vorbeifahre, denke ich oft zurück.“ Nostalgisch wird die Seniorin dabei nicht. Sie erinnert sich an die engen Treppen, das kleine Gartenstück mit Gemüse, das Leben ohne Wasser und elektrische Heizung: „Wir mussten auf vieles verzichten und hatten nur wenig Geld – verhungert sind wir aber nicht.“

    Stöhr wohnt seit 1952 in Filzingen, wo sie sich zu Hause fühlt. Sie hängt nicht an dem Gebäude. Einmal sei sie noch hingefahren und um das Haus gelaufen. „Das ist schon so lange her. Ich bin nicht traurig, wenn die Bleiche abgerissen wird.“

    Alwin Müller schließt die Eingangstür und nestelt an dem Schloss, bis es einrastet. „Natürlich wäre es schade um das Haus, aber das ist der Zug der Zeit.“ Ein Gedanke beschäftigt ihn bereits seit Längerem. Vielleicht schlummern Schätze in dem zerfallenden Gebäude. Denn vor der Reichskristallnacht nahmen die Juden Altenstadts die wertvollen Gegenstände heraus und versteckten sie in den umliegenden Häusern. Müller wirft einen Blick auf die graue Fassade. „Vielleicht taucht da das ein oder andere auf, wenn das Haus abgerissen wird.“

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