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Janine Berger packt aus: Schockierende Missbrauchsvorwürfe erschüttern Turnen

Interview

Turnerin Janine Berger: „Uns wurde eingebläut, Schmerzen zu ignorieren und den Mund zu halten“

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    Janine Berger spricht über die Missstände im Deutschen Turnen.
    Janine Berger spricht über die Missstände im Deutschen Turnen. Foto: Bernhard Kotz

    Frau Berger, Sie haben vor wenigen Tagen öffentlich den Machtmissbrauch im Deutschen Turnerbund kritisiert. Was hat Sie dazu bewogen, sich gerade jetzt zu diesem Thema zu äußern?
    JANINE BERGER: Dass im deutschen Turnen Missstände herrschen, ist intern schon lange klar. Es tut mir in der Seele weh und macht mich gleichzeitig wütend zu sehen, dass viele Talente weiterhin psychisch und physisch kaputt gemacht werden und das muss endlich ein Ende haben. Es geht um Kinder! Es wurden einige Gespräche intern geführt, die die Missstände aufzeigen, aber wirklich ernst genommen wurde es nicht, im Gegenteil: Es wurde einfach unter den Tisch gekehrt und geraten, nichts zu sagen. Das erste Statement des DTB zu den Vorwürfen war in meinen Augen ein Versuch, alte Missstände als einen vermeintlich erfolgreichen Strukturwandel darzustellen. Mittlerweile hat der Verband schwere Missbrauchsvorwürfe als „Verfehlungen“ eingeräumt und eine „selbstkritische Reflektion“ angeordnet. Ein Verband möchte aufarbeiten und sich selbstkritisch reflektieren? Es ist auch sehr widersprüchlich, einen Strukturwandel anzustreben, indem Trainer aufgrund der neusten Missbrauchsvorwürfe kurzzeitig nur freigestellt werden und gleichzeitig ein neuer Trainer den Betrieb übernimmt, der in einem anderen Land in der Vergangenheit wegen ähnlicher Vorwürfe schuldig gesprochen wurde. Ein ehemals verurteilter Trainer soll jetzt zum Aufklärer werden? Zudem braucht es auch viel Zeit, bis man selbst realisiert und verarbeitet hat, was man alles durchlebt hat. Vor Kurzem haben weitere Turnerinnen ihre Stimme erhoben. Das ist erst die Spitze des Eisbergs. Jetzt sind wir viele Turnerinnen und jede hat ihre eigene Geschichte und doch ähneln sich die Erfahrung. Meine Geschichte und die meiner Kolleginnen kann nicht mehr geändert werden, aber jetzt ist die Chance gekommen, dass wir die Menschen im System zur Verantwortung ziehen und für die Zukunft etwas verändern.  

    Gibt es einen Moment, der Sie besonders zum Nachdenken über das System gebracht hat?
    BERGER: Einen gesonderten Moment gab es nicht, allerdings hat mich die Thematik 2020 mit den vielen Missbrauchsvorwürfen schon sehr aufgewühlt. Ich habe die Berichte gelesen und fand mich in jedem Satz wieder. Das war krass. Man realisiert, dass man nicht selbst das Problem war, sondern das System und die Menschen dahinter. An einen Moment kann ich mich noch ganz genau erinnern. Ich habe 2013 einen Brief erhalten. Darin steht, dass ich vom B- in den A-Kader aufgestiegen bin. Im nächsten Satz folgt, dass meine monatliche finanzielle Förderung aufgrund meines Gewichtes und meiner Trainingseinstellung ausgesetzt werde, solange bis die damalige Bundestrainerin, Ulla Koch, „grünes Licht“ gäbe. Dann habe ich ein Dokument gefunden, in dem steht, dass ich zu dieser Zeit einen Körperfettanteil von neun Prozent hatte. Natürlich ist das Gewicht im Turnen wichtig, aber das Geld zu streichen, obwohl ich im A-Kader war und neun Prozent Körperfettanteil hatte, ist einfach krank und hat nichts mit hartem Training zu tun! Ich habe dann einige alte Unterlagen und Nachrichten entdeckt und war schockiert, weil es schwarz auf weiß stand! Ich war damals seelisch am Boden und wollte mit diesem Sport überhaupt nichts mehr zu tun haben, bis ich erkannt habe, dass nicht mein geliebter Sport das Problem ist, sondern das System. Irgendwann bin ich wieder zurück in die Turnhalle außerhalb des Kaders und es war die schönste Zeit meiner Karriere im Turnen. Ich habe meine eigenen Trainingspläne geschrieben und mich allein Stück für Stück aufgebaut. Ich hatte aber auch das Alter dazu und wusste, dass ich nicht mehr in dieses System zurückwollen würde. Das interessante war, dass ich sowohl national als auch international vorne mithalten konnten und am Stufenbarren sogar deutlich besser war, als zu der Zeit, in der ich im Kader war. Da habe ich zum ersten Mal realisiert, dass vorher immer gegen mich gearbeitet wurde und das zeigt doch, dass Spitzensport auf Augenhöhe erfolgen kann und so wahrscheinlich sogar mehr Erfolg langfristig erzielt wird.

    Wie haben sich diese Erfahrungen auf Ihre Karriere und persönliche Entwicklung ausgewirkt? 
    BERGER: Natürlich wirken sich diese Erfahrungen, die man seit der Kindheit erlebt hat, auf die Entwicklung aus. Die Bundestrainerin war meine Bezugs- und Vertrauensperson, von der ich abhängig war. Ich war immer eine sehr extrovertierte Turnerin, die oft den Mund aufgemacht und dagegen gekämpft hat, aber im Endeffekt zog ich immer den Kürzeren, da das System so viel Macht über dich als Athleten ausüben konnte und es auch geschafft hat, mündige Athleten zu brechen. Es war mein großer Traum, mich nach dem vierten Platz bei den Olympischen Spielen zu vollenden, da ich mich als Versager gefühlt habe und die Medaille holen wollte, die mir zustand. Ich habe so hart dafür gearbeitet und gleichzeitig den Aussagen geglaubt. Sagt man etwas als Athlet, bekommt man es deutlich zu spüren und weiß genau, dass man schnell raus ist - unabhängig von der Leistung. Was glauben Sie, warum sprechen größtenteils Athleten Missstände an, die nicht mehr im Kader sind? Als Außenstehender kann man leicht sagen, warum sagt man als Athlet nichts oder hört auf. In einem Umfeld, das von Machtgefällen, Abhängigkeiten und systematischen Druck geprägt ist, fühlt man sich nicht in der Lage dazu und liebt diesen Sport über alles.

    Haben Sie das Erlebte und Ihre Essstörung in einer Therapie verarbeitet? 
    BERGER: Ich bin seit einigen Jahren in Therapie, die bis heute noch andauert. Wer über so viele Jahre so tief in einer Essstörung gesteckt und mit Depressionen gekämpft hat, weiß, dass es lange Zeit braucht, bis man diesen Kampf gewinnt. Wenn dir jahrelang gesagt wurde, dass du nur etwas wert bist, wenn du Leistung bringst und du immer damit beschäftigt warst, möglichst viel abzunehmen, indem du dich übergibst, dann hinterlässt das körperliche und seelische Spuren, mit denen ich heute noch zu kämpfen habe. Es hat lange gebraucht, bis ich gelernt habe, dass mein Wert nicht von meiner Leistung abhängt oder davon, wie mich andere Menschen behandeln.

    Was sind die Hauptursachen für Machtmissbrauch im Turnsport? Welche Strukturen fördern solches Verhalten?
    BERGER: Im Turnen kommt man als Kind in dieses System. Man wächst damit auf und wird geformt, so wie das System einen haben möchte. Je jünger man in mit einem Sport anfängt, desto besser kann man Kinder formen und desto einfacher und anfälliger ist der Sport für Missbrauch. Der Leistungshöhepunkt im Turnen ist anders als bei vielen anderen Sportarten. Trainingslager und internationale Wettkämpfe finden bereits mit zehn bis zwölf Jahren statt. Umso wichtiger ist es, dass man Kinder schützt. Uns wurde eingebläut, Schmerzen zu ignorieren und den Mund zu halten. Und wir reden hier nicht über kleine Wehwehchen. Damit meine ich gebrochene Knochen, gerissene Bänder und gravierende Verletzungen. Dir wird eingetrichtert, dass du dir alles nur einbildest oder lügen würdest. Ich kann mich gut an ein Trainingslager erinnern, bei dem ich schwer gestürzt war und mein Fuß lila und blau war. Ich hatte starke Schmerzen und konnte kaum auftreten und trotzdem hat man es geschafft, dass ich geglaubt hatte, ich würde mir alles einbilden. Die Eltern wissen gar nicht, was abgeht. Sie vertrauen den Aussagen der Verantwortlichen und werden ebenfalls Opfer dieses Systems. Zudem war es mein großer Traum und wenn ich ehrlich bin, wüsste ich nicht, ob ich ihnen verziehen hätte, wenn sie mich aus dem System geholt und somit meinen Traum zerstört hätten.

    Fehlen Mechanismen, um Athletinnen zu schützen?
    BERGER: Da gibt es viele! Ich glaube, das Hauptproblem ist einfach, dass dieses System schon so lange besteht, dass die entscheidenden Instanzen sich schwertun, Strukturen aufzubrechen. Zudem müssen die Verantwortlichen auch den Strukturwandel wollen, was in meinen Augen aufgrund des fehlenden Handelns infrage gestellt werden muss. Ein Athlet ist ein mündiger Mensch und kein Produkt, das respektlos benutzt werden kann. Ein Anfang wäre, dass Athleten von externen, wirklich unabhängigen Institutionen zusätzlich betreut und die Verantwortlichen überwacht werden. Darüber hinaus wäre eine Art Code of Conduct dringend vonnöten, der für alle Beteiligten im Leistungssport, insbesondere für verantwortliche Trainer und Trainerinnen bindend ist und von einer übergeordneten Instanz, wie dem DOSB, ausgeht und für alle Verbände Gültigkeit hat. Hier sollte auch eine übergeordnete Beschwerdestelle sitzen und nicht in den jeweiligen Verbänden, da diese sich nur selbst schützen wollen. Es reicht nicht, auf dem Papier Konzepte zu entwickeln und Slogans wie „happy healthy athletes“ nach außen zu kommunizieren. Walk the talk! Das muss man dann auch umsetzen und handeln und sich nicht nach außen betroffen zeigen, obwohl man genau davon Bescheid wusste. Ein ernstgemeinter Strukturwandel erscheint äußerst fragwürdig, wenn ein Bundestrainer verpflichtet wurde, der in einem anderen Land schuldig gesprochen wurde. Zwei Jahre später, trotz dieser Entscheidung, werden erneut gravierende Missstände geäußert. Laut den Aussagen von Ulla Koch und des Verbands stehen beide für eine „Kultur des Hinschauens und Handelns“. Koch wurde sogar mit dem „IOC Coach Lifetime Achievement Award“ ausgezeichnet, der ihr für ihren besonderen Einsatz für Athleten im Sinne des Olympischen Gedankens verliehen wurde. Die Frage bleibt, warum dann kein entsprechendes Handeln erfolgt ist – oder ob der Wandel vielleicht doch nicht ganz so gewollt war.

    Welche Botschaft möchten Sie anderen Betroffenen und der Öffentlichkeit vermitteln?
    BERGER: Ich möchte den Betroffenen meinen größten Respekt für ihren Mut aussprechen und dass sie stolz auf sich sein können. Innere Freiheit entsteht, wenn wir den Mut aufbringen, die Wahrheit auszusprechen und sich von niemandem einschüchtern zu lassen. Es fordert unglaubliche Kraft, sich gegen ein System öffentlich zu stellen und das Erlebte nochmal zu berichten. Ich glaube jemand, der nie in einem solchen System aufgewachsen ist, kann sich das nur schwer vorstellen. Ich liebe meinen Sport über alles und würde immer wieder diesen Weg gehen, aber es muss sich für die Zukunft etwas ändern, damit wir Kinder schützen und zu mündigen Athleten erziehen.

    Wie war die Resonanz auf Ihr Statement?
    BERGER: Ich war ehrlich gesagt überwältigt über so viel Zuspruch und Rückhalt. Jede einzelne Nachricht hat mich zu Tränen gerührt. Mein Postfach ist explodiert mit Nachrichten von Turnerinnen, die Ähnliches durchlebt haben oder es immer noch tun und die sich bis heute nie getraut haben, darüber zu sprechen. Das zeigt in meinen Augen nochmal mehr, dass eine Veränderung dringend passieren muss. Natürlich war mir auch bewusst, dass Gegenwind kommen wird. Aber das bin ich seit meiner Kindheit schon gewohnt. Wenn man den Mund aufmacht, ist man natürlich unangenehm und es wird schnell versucht einzuschüchtern.  Aber wegschauen und den Mund halten, war noch nie meine Art. Mir geht es geht darum, Kinder im Leistungssport in der Zukunft zu schützen. Damals habe ich immer gesagt: Gegenwind muss man nutzen, um noch höher zu fliegen!

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