Herr Jauernig, Günzburg hat eine Jahrhundertkatastrophe erfahren. Wie haben Sie diese Tage erlebt?
GERHARD JAUERNIG: Der Sonntag war ein Tag voller Dynamik und Dramatik. Innerhalb von wenigen Minuten hat sich die Situation jedes Mal verändert und wir haben am Sonntag unsere Kräfte darauf konzentriert, dass wir Menschenleben retten. Ich habe draußen bei den Einsatzkräften vor Ort Bilder gesehen, von denen ich niemals gedacht hätte, dass sie in Günzburg jemals stattfinden könnten
Wie ist die Stadt Günzburg mit dieser Ausnahmesituation umgegangen?
GERHARD JAUERNIG: Ganz positiv war, dass wir bereits über den Katastrophenalarm und vor allem durch eine sehr gut strukturierte Feuerwehr begonnen haben, am Freitag Tausende Sandsäcke abzufüllen, Objekte zu schützen, alle verfügbaren Kräfte der Feuerwehr vor Ort zu haben, mit dem Krisenstab des Landkreises in engster Koordination zu überlegen: Was ist zu tun? Wir haben am Freitag Durchsagen in der Stadt gemacht, um bereits da vor möglichen Entwicklungen am Samstag zu warnen.
Bei der Warnung blieb es dann ja nicht.
GERHARD JAUERNIG: Wir haben uns am Samstagabend entschieden, Teilbereiche der Stadt zu evakuieren und die Bewohner vorsorglich in Sicherheit zu bringen. Das betraf zunächst das Wohngebiet beim Donaukraftwerk neben dem Auwaldstadion, aber auch zwischen der Günz und Butzengünz. Die meisten Betroffenen haben die Nacht bei Freunden und Bekannten verbracht. Da war schon die erste Welle der Solidarität und der Hilfsbereitschaft erkennbar.
Am Sonntag hat sich die Lage in Günzburg zum ersten Mal dramatisch zugespitzt. Sie selbst haben ihren Urlaub abgebrochen und sind vor Ort gewesen. Was haben Sie beobachtet?
GERHARD JAUERNIG: In der Nacht zum Sonntag haben sich dann die Pegelstände und die daraus resultierenden Ereignisse mit einer Dynamik entwickelt, die allen Ehrenamtlichen alles abverlangt haben. Die erste große Welle kam am frühen Sonntagvormittag. Ich habe Feuerwehrkameradinnen und Kameraden gesehen, die durch die Straße gefahren sind mit Lautsprechern. Ich habe Feuerwehrleute gesehen, die noch versucht haben, mit Klingeln und Klopfen an den Türen Menschen vor dem lebensgefährlichen Anstieg des Wasserpegels zu warnen und zu retten. Ich habe junge Frauen und Männer gesehen, die aus den Häusern kamen mit Taschen, dem wertvollsten, was sie noch retten konnten, und Haustieren. Das waren Bilder, die man eigentlich nur aus Filmen und aus dem Fernsehen kennt.
Wie verlief die Evakuierung der Anwohner aus der Unterstadt? Das war sicher auch für die Einsatzkräfte eine gefährliche Situation?
GERHARD JAUERNIG: In kürzester Zeit waren viele Bereiche unter Wasser. Die Einsatzkräfte haben Menschenleben gerettet - mit Booten, aber auch mit Hubschraubern, speziell im Stadtteil Wasserburg. Ich habe eine Situation vor Ort miterlebt von drei Rettungskräften im Bereich des Kappenzipfels. Das Boot der DRLG kenterte. Zwei Personen konnten sich noch an einem Baum festhalten, die dritte am Laternenmast. Das war für die Rettungskräfte eine lebensgefährliche Situation. Wenn wir die Einsatzkräfte nicht gehabt hätten, hätten wir in Günzburg nicht nur Verletzte gehabt. Wir hätten auch Tote zu beklagen.
Nach diesem belastenden Einsatz gab es aber noch keine Entwarnung in Günzburg. Trotzdem haben sich Menschen in dem evakuierten Gebiet aufgehalten.
GERHARD JAUERNIG: Wir haben am Montag die Warnung bekommen, dass es zu einer zweiten Welle kommen könnte. Die Menschen haben - und das ist auch absolut nachvollziehbar - nach diesem Schrecken von Sonntagnacht ihre Notquartiere verlassen, um nach ihren Häusern zu sehen. Das kann ich verstehen. Es war nicht rechtens, und es war auch nicht gut, weil nach wie vor Gefahr bestand. Viele Häuser hatten nach wie vor überflutete Keller, ein Gemisch von Wasser und Öl, teilweise war der Strom noch nicht ganz abgestellt. Es bestand wirklich Lebensgefahr. Die Menschen haben begonnen - was ich verstehe - aufzuräumen. Als dann die Berechnungen des Wasserwirtschaftsamts Grund zur Sorge gaben, dass es zu einer zweiten Welle kommt, mussten wir handeln. Auf den Straßen stand bereits überall der Sperrmüll. Das hätte bei einer erneuten Welle weitere Barrieren im Stadtgebiet auftürmen können. Deswegen haben wir die Bundeswehr um Hilfe gebeten, die dann zusammen mit unserem Bauhof in der Nacht versucht hat, die Straßen, von denen wir annehmen mussten, dass sie nochmal überschwemmt werden, vom Sperrmüll freizuräumen.
Die Situation, die Sie schildern, ist dramatisch. Wie haben die Menschen vor Ort reagiert auf die Aufforderung, ihre Wohnungen zu verlassen?
GERHARD JAUERNIG: Vereinzelt wollten Bewohner die Gebäude nicht verlassen, vor allem ältere Menschen, und das obwohl Lebensgefahr herrschte. Am Montag kehrten dann wie gesagt trotz Verbots und obwohl wir in einem Sperrbereich waren Menschen in ihre Häuser zurück. Wir haben dann die Polizei um Unterstützung gebeten. Die Polizei kam mit Dutzenden Kräften, die den bereits gesperrten Bereich nochmal abgeriegelt hatten. Wir haben die Menschen wieder gewarnt, mit Mikrofonen, mit Warn-App, übers Internet und die Sozialen Netzwerke. In der Nacht auf Dienstag waren dann keine Menschen mehr in den gesperrten Gebieten. Auch im Eindruck der Bilder vom Sonntag hat sich jeder an die Aufforderung gehalten.
Seit Freitagabend gilt im Landkreis der Katastrophenfall, auch das Rathaus ist im Krisenmodus. Wie funktioniert die Koordination aus Ihrer Sicht?
GERHARD JAUERNIG: Der Austausch zwischen Landratsamt und Stadt verlief hervorragend, auch mit dem BRK, weiteren Hilfskräften und der Polizei. Insbesondere zwischen Landrat Hans Reichhart und mir gab es durchgehend einen stetigen vertrauensvollen und äußerst produktiven ständigen Austausch. Und auch innerhalb des Rathauses läuft es sehr gut. Wir haben einen Krisenstab einberufen, die Beschäftigten kamen teilweise aus dem Urlaub zurück. Ehrenamtliche Hilfe haben wir auch von früheren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern bekommen, die als Ehemalige jetzt aushelfen.
Kann man sich auf so ein Ereignis überhaupt vorbereiten?
GERHARD JAUERNIG: Es gibt Pläne für Katastrophen. Aber so eine Situation hat es noch nie gegeben. Und trotzdem wusste immer jeder, was zu tun ist.
Wie geht es den Helferinnen und Helfern?
GERHARD JAUERNIG: Unsere Rettungskräfte sind seit Tagen am Limit. Die Helfer riskieren ihr Leben, das haben wir in Offingen erlebt, wir haben es in Günzburg gesehen. Wasser ist völlig unberechenbar. Und die Situation kann innerhalb von Sekunden eine andere sein. Für mich ist phänomenal, was die Rettungskräfte geleistet haben. Die vergleichsweise junge Führungsmannschaft um Christoph Stammer, unseren Stadtbrandinspektor, und Stadtbrandmeister Florian Propp hat in dieser Krise gezeigt, dass sich die Günzburger auf sie und auf die Mannschaft verlassen können. Die Einsatzkräfte, Feuerwehr, THW, Bauhof, Rotes Kreuz, alle waren rund um die Uhr im Einsatz, haben teilweise auf der Wache oder in den Autos geschlafen. Dieser Einsatz verdient alle Wertschätzung. Das kann man gar nicht in Worten beschreiben. Und alle, die sich die Frage gestellt haben, ob es wirklich nötig war, dass wir für zwölf Millionen Euro eine neue Feuerwache bauen, haben durch diesen schlimmen Schicksalsschlag erlebt, wie wichtig diese Infrastruktur ist. Das gleiche gilt für die Anhebung der Gewerbesteuer - denn nur so können wir Pflichtaufgaben wie die Feuerwehr stemmen.
Die befürchtete zweite Welle kam zum Glück nicht. Dafür wird so langsam das Ausmaß der Katastrophe sichtbar. Was ist als nächstes zu tun?
GERHARD JAUERNIG: Seit Montag geht es für uns vor allem darum, die Infrastruktur wieder in Takt zu setzen und aufrecht zu erhalten. Da steht über allem Strom und Wasser - denn ohne beide geht weder Hilfeleistung, noch die Rückkehr zur Normalität. Wir hatten in Günzburg sehr früh reagiert, indem wir bereits Ende der vergangenen Woche entschieden haben, die beiden Flachbrunnen abzuschalten und nur noch die beiden Tiefbrunnen auf Volllast in Betrieb zu halten. Das war ein Risiko, aber es hat funktioniert und wir haben bis heute eine Trinkwasserversorgung. Großes Kompliment an unsere Stadtwerke für die weitsichtige Planung. Außerdem haben wir ein Hilfetelefon geschaltet, wo wir Menschen zusammenbringen, die Hilfe anbieten und Hilfe benötigen. Die Nummer ist 08221/903-555.
Günzburg befindet sich in einer Ausnahmesituation. Wie nehmen Sie Ihre Stadt in diesen Tagen wahr?
GERHARD JAUERNIG: Die Hilfe aus der Bevölkerung ist riesig. Wir bekommen im Minutentakt Hilfsangebote. Im Stadtteil Denzingen kamen Freiwillige zusammen, um Sandsäcke zu füllen. Eine Eisdiele hat die Helfer kostenlos versorgt, und ein Unternehmer hat Würstchen für die Einsatzkräfte gegrillt. Es gibt unzählige solcher Beispiele. Und dann gibt es auch solche Situationen, wo wir merken, die Leute reagieren ganz herzlich und ganz spontan. Als ich am Montagvormittag auf der Bleiche unterwegs war, lagen da Dutzende von Fischen, die alle noch lebten. Und selbst in der Situation haben die Menschen noch gesagt: Jetzt helf ich erst den Tieren. Die Leute haben Wannen genommen, die Fische eingesammelt und zurück in die Günz gebracht. Der Charakter einer Stadtgesellschaft zeigt sich im Umgang mit den Schwächsten und ob im Krisenfall Solidarität gelebt wird. Ich kann nur sagen: Ich bin stolz auf unsere Günzburger.
Das Wasser zieht sich zurück, die Aufgaben werden nicht kleiner. Wie geht es jetzt in Günzburg weiter?
GERHARD JAUERNIG: Viele Einrichtungen, die für die öffentliche Infrastruktur notwendig sind, haben wir am Dienstag begonnen auszupumpen, Kindergärten wie auf der Hagenweide, unser Wasserwerk, Klärwerk, das Altenheim. Wir überprüfen jede Idee, welche Gebäude in den nächsten Wochen und Monaten alternativ zur Verfügung stehen. Hier ist mein Appell und meine Bitte, dass die Stadt die Solidarität auch in den nächsten Wochen lebt. Wir sind bereits auf die Musikschule zugegangen, ob der Unterricht vorerst dezentral stattfinden kann, damit wir die Räume nutzen können. Genauso spreche ich auch mit der Volkshochschule. Aus unserem Altenheim mussten wir 80 Bewohnerinnen und Bewohner unter schwersten Bedingungen evakuieren. Diese sind derzeit in anderen Pflegeeinrichtungen. Es ist derzeit noch schwer vorstellbar, dass wir in den nächsten Wochen in unserem Altenheim einen Betrieb zusichern können, wie wir es unserem Anspruch nach erwarten. Aber wir werden alles versuchen, um es zu tun.
Was ist zu tun, damit eine solche Jahrhundertflut nicht mehr mit solcher Wucht kommt?
GERHARD JAUERNIG: Wir müssen uns technisch darauf einstellen, das solche extremen Umweltereignisse in kurzen Abständen wiederkommen. Der Zeitpunkt ist noch nicht heute da, aber er wird kommen, wo wir das diskutieren müssen. Wir müssen darüber sprechen, wie wir den Hochwasserschutz noch effektiver ausrichten können, und zwar so, dass er nicht am St. Florians-Prinzip orientiert wird. Ich kann vielleicht Teile meiner Stadt mit Hochwasserwänden schützen. Aber dann knallt das Wasser mit größerer Geschwindigkeit in die nächste Stadt. Wir müssen die Stadtplanung der Zukunft neu aufstellen. Wir brauchen die Schwammstadt, Planung mit Regenrückhaltebecken in allen Bereichen, aber auch mit der Möglichkeit, bei Dürre das Wasser wieder abzurufen. Und wir brauchen aus meiner Sicht eine Pflichtversicherung für Elementarschäden, das sage ich auch als Sprecher des Städtetags in Schwaben.
Zur Person
Gerhard Jauernig (SPD) ist seit 2002 Oberbürgermeister der Großen Kreisstadt Günzburg.