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Ichenhausen: Das bewegende Schicksal des jüdischen Mädchens mit den Zöpfen

Anneliese Erlanger war 14 Jahre alt, als sie im August 1939 mit einem Kindertransport nach London entkam. Diesen Pass hatte sie bei sich. Er ist in der Ausstellung im Schulmuseum zu sehen.
Foto: Leo Baeck Institut
Ichenhausen

Das bewegende Schicksal des jüdischen Mädchens mit den Zöpfen

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    Sie war gerade mal 14 Jahre jung. Ein zartes Mädchen mit langen geflochtenen Zöpfen. Anneliese Erlangers Kindheit in Ichenhausen ging abrupt zu Ende, als sie im August 1939 ihre Mutter und ihre kleinere Schwester verlassen musste. Ohne geliebte Familie, allein auf sich gestellt, ausgestattet mit nur einem Koffer lebensnotwendiger Dinge und zusammen mit wildfremden anderen jüdischen Kindern musste sie eine Reise ins Unbekannte antreten. Doch genau die rettete ihr das Leben. Anneliese Erlanger überlebte als einzige ihrer Familie und als eine der wenigen Juden aus Ichenhausen die NS-Zeit. Dass ihre Leidens- und Lebensgeschichte erst nach vielen Jahrzehnten ans Licht der Öffentlichkeit kommt, ist mit einer Reihe von Zufällen verknüpft. Genau diese Anneliese, das Mädchen mit den Zöpfen, steht jetzt im Mittelpunkt einer Ausstellung im Schulmuseum. Diese wird am Donnerstag, unmittelbar nach dem 80. Jahrestag der Auslöschung der jüdischen Gemeinde Ichenhausen, eröffnet.

    Es war im Herbst vergangenen Jahres, als "eine verrückte und unglaubliche Geschichte" ihren Lauf nahm, wie es Franz Ritter ausdrückt, der zweite Vorsitzende des Fördervereins Kultur und Naherholung Ichenhausen und Umgebung. Ausgangspunkt war ein trauriger Anlass. Hermann Miller, der langjährige Standesbeamte der Stadt Ichenhausen, war gerade im Alter von 99 Jahren verstorben. Seinem Sohn Hermann Miller junior war bekannt, dass sein Vater kurz zuvor noch seine Lebenserinnerungen niedergeschrieben hatte. 

    Das Foto zeigt die Familie Erlanger: Mutter Emma (hinten links) und die jüngere Schwester Ingeborg (vorne links) wurden am 1. April 1942 nach Ostpolen "ausgesiedelt" und dort ermordet. Vater Siegfried war bereits im Dezember 1936 verstorben. Anneliese überlebte als einzige ihrer Familie die NS-Zeit.
    Das Foto zeigt die Familie Erlanger: Mutter Emma (hinten links) und die jüngere Schwester Ingeborg (vorne links) wurden am 1. April 1942 nach Ostpolen "ausgesiedelt" und dort ermordet. Vater Siegfried war bereits im Dezember 1936 verstorben. Anneliese überlebte als einzige ihrer Familie die NS-Zeit. Foto: Leo Baeck Institut

    Unter anderem habe er seine Kindheit beschrieben, dass seine Familie damals einige Jahre im Hause Erlanger zur Miete gelebt habe. Das Leben einer christlichen Familie unter dem Dach einer jüdischen Familie habe gut funktioniert, auch die Kinder seien gut miteinander ausgekommen. Und dann fiel in einem Nebensatz, der Name Anneliese Erlanger. Das Mädchen, das nur zwei Jahre jünger als Hermann Miller gewesen sei, sei 1939 zunächst nach London, später nach New York ausgereist. 

    Anneliese Erlanger und ihre jüngere Schwester Ingeborg vor dem einstigen christlich-jüdischen Kindergarten in Ichenhausen. Der befand sich dort, wo jetzt das Nebengebäude des Bayerischen Schulmuseums ist.
    Anneliese Erlanger und ihre jüngere Schwester Ingeborg vor dem einstigen christlich-jüdischen Kindergarten in Ichenhausen. Der befand sich dort, wo jetzt das Nebengebäude des Bayerischen Schulmuseums ist. Foto: Leo Baeck Institut

    Franz Ritter wurde hellhörig. Ein jüdisches Mädchen aus Ichenhausen, das den Holocaust überlebt und von der bisher niemand gewusst hatte? Er tauchte ein in die Erinnerungen von Hermann Miller und erfuhr, dass Anneliese Ende der 60er-Jahre eines Tages völlig überraschend vor seiner Haustüre in Ichenhausen stand – zum ersten Mal seit ihrer Ausreise war sie in ihre einstige Heimat zurückgekehrt. Es blieb bei diesem einen Mal, sie habe ihm ihre Adresse in New York gegeben und gemeint, dass sie wohl nie wieder kommen werde. Dafür flog Hermann Millers Sohn in den 80er-Jahren zweimal in die USA und besuchte dabei auch Anneliese Erlanger. Dann sei der Kontakt abgerissen. 

    Doch was war aus der jüdischen Frau mit Wurzeln in Ichenhausen geworden? Hermann Miller junior und Franz Ritter begannen nachzuforschen, stießen im Internet zufällig auf ein Foto des Reisepasses von Anneliese Erlanger. Als Quelle war das Leo Baeck Institut mit Sitz in New York aufgeführt, das es sich zur Aufgabe gemacht hat, die Geschichte und Kultur des deutschsprachigen Judentums zu dokumentieren. Die Ichenhauser fanden heraus, dass die Jüdin im Jahr 2013 gestorben und dem Institut ihren kompletten Nachlass vermacht hatte. Franz Ritter ließ nicht locker, suchte den Kontakt zu dem Institut und Fortuna spielte ihm in die Karten. Denn glücklicherweise sind inzwischen große Teile des Archivs digitalisiert, "wir mussten nicht extra nach New York fliegen, um an das Material heranzukommen", erzählt Ritter. 

    Dass überhaupt so viel aus dem Leben von Anneliese Erlanger für die Nachwelt erhalten geblieben ist, das jetzt Teil einer Ausstellung werden kann, ist ein weiterer Glücksfall. Die Mutter der damals 14-Jährigen, die einen Ausreiseantrag für sich und ihre Kinder gestellt hatte, muss im tiefsten Inneren geahnt haben, was an schrecklichen Ereignissen in Deutschland bevorsteht. Weil nur der Antrag für die ältere Tochter genehmigt worden war, gab sie ihr neben Kleidung auch Fotoalben und ein Kochbuch mit. 

    Anneliese Erlanger hat 1929 zusammen mit vielen anderen jüdischen Kindern aus Ichenhausen das Purimfest gefeiert. Im Mittelpunkt des Festes steht das Verkleiden mit bunten Trachten und das Veranstalten von Umzügen. In ihren schriftlichen Erinnerungen hat Anneliese Erlanger später festgehalten, dass von den Kindern, die auf dem Foto waren, die wenigsten den Holocaust überlebt haben.
    Anneliese Erlanger hat 1929 zusammen mit vielen anderen jüdischen Kindern aus Ichenhausen das Purimfest gefeiert. Im Mittelpunkt des Festes steht das Verkleiden mit bunten Trachten und das Veranstalten von Umzügen. In ihren schriftlichen Erinnerungen hat Anneliese Erlanger später festgehalten, dass von den Kindern, die auf dem Foto waren, die wenigsten den Holocaust überlebt haben. Foto: Leo Baeck Institut

    Sie sind jetzt Teil der Ausstellung im Schulmuseum, zusammen mit vielen Berichten, die Anneliese Erlanger später aus der Erinnerung niedergeschrieben hat, die aus dem Englischen ins Deutsche übersetzt wurden. Doch nicht allein an Anneliese Erlangers Schicksal will die Ausstellung erinnern, sondern auch an all die anderen jüdischen Kinder – an die, die den Holocaust nicht überlebt haben und an die, die dank der Kindertransporte überlebt haben. Speziell mit diesem Thema haben sich Schüler der Hans-Maier-Realschule befasst und in die Ausstellung mit eingebracht.

    Auf dem jüdischen Friedhof in Ichenhausen befindet sich das Grab von Anneliese Erlangers Vater Siegfried.
    Auf dem jüdischen Friedhof in Ichenhausen befindet sich das Grab von Anneliese Erlangers Vater Siegfried. Foto: Leo Baeck Institut

    Anneliese Erlanger hat kein Tagebuch geschrieben, wie das jüdische Mädchen Anne Frank. Trotzdem fühlt sich auch Franz Ritter an sie erinnert. Ihre Vornamen liegen sehr nahe beieinander, sie waren zwei junge Mädchen, die sich nicht unähnlich sehen. Die eine war 14, als sie eine Woche vor Kriegsbeginn noch ausreiste und dem Holocaust entging, die andere war 16, als sie von den Nationalsozialisten ermordet wurde. Das Schicksal der Anne Frank bewegt bis heute, das Leben von Anneliese Erlanger berührt einen nicht weniger. 

    Auf dem Ichenhauser Marktplatz posiert 1938 ein Soldat neben einer Kanone.
    Auf dem Ichenhauser Marktplatz posiert 1938 ein Soldat neben einer Kanone. Foto: Leo Baeck Institut

    Sie muss eine glückliche Kindheit gehabt haben, auf den Fotos ist sie immer lachend, spielend mit ihrer drei Jahre jüngeren Schwester zu sehen. "Ich dachte, meine Welt, würde zusammenbrechen", wie sie selbst in ihren Aufzeichnungen schreibt, als ihr Vater 1936 an einem Herzinfarkt starb. Da war sie gerade elf Jahre alt. Jahre später "dankte ich Gott tausendmal, dass er ihn vor den unbeschreiblichen Ereignissen wenige Jahre später zu sich genommen hatte". Am 24. August 1939 verließ sie Ichenhausen. Sie war Teil des letzten Kindertransports, der Deutschland vor dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs hinter sich ließ. 

    Anneliese Erlanger bricht mit 100 Kindern aus ganz Deutschland nach England auf

    Einer ihrer Cousins brachte sie an den Bahnhof nach München, "mit denen ich dann nach Frankfurt fuhr. Von dort brachen 100 Kinder aus ganz Deutschland gemeinsam nach England auf", hat Anneliese Erlanger es schriftlich festgehalten. Sie landete in London, eine jüdische Familie bürgte für sie. Ihre Erfahrungen mit ihr seien sehr negativ gewesen, "wie auch immer, sie retteten mein Leben". Wann und wie sie vom Tod von Mutter und Schwester erfahren hat, bleibt im Unklaren. Nüchtern heißt es in den Unterlagen: "Sie wurden deportiert und starben im Konzentrationslager Piaski bei Lubin in Polen. Ich weiß nur, dass sie bei dem ersten Transport waren, der Ichenhausen am 1. April 1942 verließ." 

    Bei ihrer Ausreise von Ichenhausen nach London hat Anneliese neben Fotoalben auch ein Kochbuch ihrer Mutter eingepackt bekommen. Unter anderem findet sich dort das Rezept für "gespickter Igel".
    Bei ihrer Ausreise von Ichenhausen nach London hat Anneliese neben Fotoalben auch ein Kochbuch ihrer Mutter eingepackt bekommen. Unter anderem findet sich dort das Rezept für "gespickter Igel". Foto: Leo Baeck Institut

    Anneliese arbeitete in London erst als Näherin, später unter Anna Freud in einem Kinderheim. 1946 wanderte sie in die USA aus, wurde Krankenschwester, da sie das "große Bedürfnis, Menschen zu helfen" hatte und machte ihren Hochschulabschluss. 20 Jahre später heiratete sie und schrieb irgendwann ihre Erinnerungen auf. Beeindruckend ihre Schlussworte, mit denen sie eines betont: "Es ist wichtig hier zu bemerken, dass wir, trotz unserer Geschichte und persönlichen Leidenswege, uns nicht erlaubt haben, verbittert zu werden oder in Selbstmitleid zu versinken. Sondern zu versuchen, einen Beitrag zu leisten, diese Welt ein kleines bisschen besser zu machen, jeder auf seine Weise. Es ist mein inbrünstiges Gebet, dass nachfolgende Generationen dies niemals vergessen – die Zukunft zu gestalten, ohne die Vergangenheit zu vergessen."

    Die Zitate von Anneliese Erlanger hat dankenswerterweise das Leo Baeck Institut zur Verfügung gestellt.

    Zur Ausstellung "Anneliese, das Mädchen mit den Zöpfen"

    Im Bayerischen Schulmuseum wird vom 9. März bis zum 25. Juni die Ausstellung "Anneliese, das Mädchen mit den Zöpfen" gezeigt. 

    Eröffnet wird die Ausstellung am 9. März um 18.30 Uhr. Öffnungszeiten sind immer dienstags bis sonntags von 10 bis 17 Uhr.

    Die Ausstellung ist ein Gemeinschaftsprojekt des Fördervereins Kultur und Naherholung Ichenhausen und Umgebung, der Stadt Ichenhausen sowie der Hans- Maier-Realschule. 

    Die Ausstellung wird begleitet von einem umfangreichen Rahmenprogramm. Am 19. und 26. März, sowie am 16. April, 7. Mai und 11. Juni führt Franz Ritter durch die Ausstellung. Am 17. Mai findet um 19.30 Uhr ein Konzert mit Musik jüdischer Komponisten im Festsaal des Schulmuseums statt. Am 21. Mai bietet Claudia Madel-Böhringer um 14 Uhr eine Führung über den Jüdischen Friedhof an. Am 25. Juni steht um 17 Uhr die Lesung "Stimmen hören" an. 

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