Diese „Best of-Adventsedition“ hatte es in sich. Im fast ausverkauften Leipheimer Zehntstadel zerlegten die „Stützen der Gesellschaft“, wie sich die vier Koryphäen der Poetry-Slam-Szene nennen, schonungslos so manch festgefahrenes Gedankengut und setzten es phänomenal passend wieder zusammen. Wer sonst außer Sven Kemmler, seines Zeichens Kabarettist und Kulturkomiker, könnte sich in drei Gedichten dem Weihnachtsfest so umfassend nähern.
Kemmler begann mit „Semantische Weihnacht“, einem Gedicht über die Nacht und die Frage, was denn um Gottes willen dieses Weih sei, und legte mit „Ästhetische Weihnacht“ das Augenmerk auf den Schönheitskult. Findet sich nicht die eine oder andere Schönheitsoperation als Geschenk unter dem Christbaum? Sollte dann nicht auch am Christkind etwas gestrafft, gepolstert und bekront werden oder beim Sankt Nikolaus etwas Fett abgesaugt werden, um Weihnachten noch schöner zu machen?
Wettstreit zwischen Santa Claus und dem Christkind
Noch ein klitzekleines bisschen kritischer wurde Kemmler bei der „Kompetitiven Weihnacht“, die sich einem Wettstreit von Santa Claus und dem Christkind widmete und im Konsumrausch endete. Es könnte nämlich gut sein, dass genau dann Weihnachten sei, wenn es sich lohne, egal ob Santa oder Christkind darüber throne.
Stütze der Gesellschaft Alex Burkhard, unter anderem deutschsprachiger Poetry Slam Meister 2017, berichtete ganz sachlich vom Lucia-Fest der Studenten in Freiburg, um dann beim Battle-Rap den bayerischen Märchenkönig Ludwig II. als nicht mehr unter uns weilende Stütze der Gesellschaft kraftvoll und theatralisch vorzustellen und dafür viel Applaus zu ernten.
Eine Symphonie des Kauens
Frank Klötgen, wie Sven Kemmler ein gebürtiger 68er, vereint den Slam Poeten mit dem Musiker. Klötgen schuf eine wort- und mimikgewaltige Symphonie des Kauens, passend zu Weihnachten, dem Fest des großen Essens. Klötgen war es auch, der das Leipheimer Publikum mit der gefühlten Übersetzung des Weihnachtsklassikers „Last Christmas“ vertraut machte und zum Mitsingen motivierte.
„Ab jetzt werden sie nie mehr ’Last Christmas, I gave You my heart’ hören, sondern immer an ’Lars, Christian, Jan und Gerhard’,“ prophezeite Klötgen. Klötgen kann aber nicht nur nach Gefühl übersetzen, sondern auch rasante 19 Gedichte und eine Zugabe zum Besten geben und die Synapsen und Lachmuskeln der Zuhörer gleichermaßen strapazieren.
Fe schleicht sich in die Gedanken eines Pförtners
Den weiblichen Part der Stützen der Gesellschaft übernahm Fe (Felicitas Brembeck), eine Feeministin des Poetry Slams und in Leipheim eine echte Moderatorin. Schöne Texte hatte die Autorin auch mitgebracht. Sie schlich sich schnell erzählend in die Gedanken eines Pförtners der Kunstakademie ein, der ein wahres Dilemma seines Pflichtbewusstseins erlebt. Die Feeministin in Fee packte ganz andere Gedanken aus. „Unsere Gesellschaft ist spezialisiert auf Schönheit. Was wäre, wenn schlau das neue schön wäre?“
Es sind irre Dinge, die dann passieren würden. Nicht nur dass bei Hobbys „Freunde treffen, recherchieren, Kant“ genannt werden würde, es könnte auch zu Massendiskussionen am Cottbusser Tor kommen. Sind es bisher Einzelauftritte dieser bemerkenswerten Stützen der Gesellschaft, die sich kostümtechnisch in den 1920ern wiederfinden, so agieren sie zum Finale als Team und widmen sich ausgiebig dem Brot des Künstlers, dem Applaus.
Ironie und Gesellschaftsdrama
Den gab es dann auch vom Zehntstadel-Publikum, ausdauernd, kraftvoll, so wie es sich gebührt für „Die Stützen der Gesellschaft“. Woher der Name der Münchner Lesebühne kommt? Etwas Hybris, Ironie und ein Gesellschaftsdrama von Henrik Ibsen namens Stützen der Gesellschaft seien laut Fe die Namensgeber.
Im neuen Jahr gerne mehr von den Stützen der Gesellschaft, denn das Jahr mache nach dem Neuanfang ja auch so weiter wie bislang. Also keine Bange vor den neuen 20ern.