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Landkreis Günzburg: Warum Rafael Seligmann in Ichenhausen gelesen hat

Landkreis Günzburg

Warum Rafael Seligmann in Ichenhausen gelesen hat

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    Bürgermeister Robert Strobel (rechts) begrüßte Autor Rafael Seligmann (sitzend) und den Beauftragten der Bundesregierung für jüdisches Leben und den Kampf gegen Antisemitismus, Felix Klein, in Ichenhausen.
    Bürgermeister Robert Strobel (rechts) begrüßte Autor Rafael Seligmann (sitzend) und den Beauftragten der Bundesregierung für jüdisches Leben und den Kampf gegen Antisemitismus, Felix Klein, in Ichenhausen. Foto: Till Hofmann

    Rafael Seligmann war erleichtert. „Hallelujah – gut war’s und so soll’s weitergehen“, trug er ins Gästebuch der ehemaligen Synagoge Ichenhausen ein. Der 71-jährige, in Berlin lebende Autor und Journalist war ganz bewusst nach

    Der Vater, ein Textilkaufmann, wuchs in Ichenhausen auf, erlebte eine unbeschwerte Kindheit und Jugend – ehe die Nazis an die Macht kamen und sich das Klima in dem kleinen Städtchen kolossal änderte. Aus anerkannten Mitgliedern der Gesellschaft wurden „Drecksjuden“, die fortan eines nicht mehr erfuhren: Respekt. Ludwig und sein Bruder Heinrich flüchteten bereits 1933 aus Ichenhausen, aus Deutschland nachdem ihn ein Freund, der Polizist war, gewarnt hatte, dass man ihn verhaften wollte.

    Ein Herz voller Traurigkeit und Hoffnung

    „Wenn ich diesen Raum betrete, ist mein Herz schwer. Es ist voll nicht nur mit Anekdoten, Traurigkeit, sondern auch mit Hoffnung“, sagte Seligmann, als er vor den Zuhörern im voll besetzten Saal des „Hauses der Begegnung“ – der früheren Synagoge – stand. Fortan hing das Publikum an den Lippen des Mannes, der seine Worte abwägte, langsam und eher leise sprach.

    Felix Klein war ebenfalls aus Berlin gekommen. Der Beauftragte der Bundesregierung für jüdisches Leben und den Kampf gegen Antisemitismus vertrat Bundesinnenminister Horst Seehofer, der ursprünglich als Redner geplant war. Klein bedauerte, dass sich das Wissen über jüdisches Leben in Deutschland oftmals auf den Holocaust beschränkt. So wichtig dies sei, „so ist es doch bei Weitem nicht ausreichend, denn es ist weniger ein Wissen über das Leben, sondern vielmehr über das Sterben“.

    Schlechte Witze dürfen nicht überhört werden

    Seligmanns Werk kann da Abhilfe schaffen. Denn in diesem Buch wird das Alltagsleben der Landjuden vor 1933 aufgeblättert. Etwas Vergleichbares gibt es in der deutschen Literatur nach Angaben des Verlages bisher nicht.

    Vater Ludwigs große Leidenschaft: Fußball

    Das ist ein Auszug aus einem Kapitel, das Rafael Seligmann in Ichenhausen vorgelesen hat: „Ab Beginn der zweiten Halbzeit rangen die Kameraden um jeden Ball. Ich bekam eine ordentliche Vorlage, nahm die Kugel auf und rannte los. Kurz vor dem Torraum sah ich mich um, wollte auf unseren Mittelstürmer flanken, doch der Ball sprang mir vom Fuß wie einem Zehnjährigen.Der Günzburger Verteidiger lachte mir ins Gesicht. Na warte! Einige Minuten später holte ich mir noch vor der Mittellinie halb rechts die Pille, umdribbelte leichtfüßig meinen Gegenspieler und stürmte vor. Bis zum Strafraum waren es vierzig Meter. Je weiter ich lief, desto mehr Luft gewann ich. Dabei klangen mir die Rufe der Zuschauer in den Ohren: „Lauf, Ludwig, lauf!“

    Das verlieh mir noch mehr Kraft. Die beiden Verteidiger standen vor dem Strafraum. Ich zog in die Mitte und überlief sie spielend. Nun baute sich nur noch der Torwart vor mir auf (...) Ich bremste meinen Lauf. Sah zum Keeper, der mir entgegenrennen wollte, um meinen Schusswinkel zu verkürzen. Dabei wurde die rechte Torecke frei. Ich umspielte ihn und schob den Ball in den leeren Kasten. „Ludwig! Ludwig! Wiggerl!“, jubelten die Zuschauer. Die Mannschaftskameraden kamen auf mich zu. Ihre anerkennenden Schläge peitschten auf meine Schultern und auf meinen Rücken (...)

    Mein Ausgleichstor beflügelte unsere Elf. Wir steigerten uns in einen Spielrausch hinein (...) Am Ende gewannen wir 2:1. Durch das Match gegen die Günzburger hatte ich mich ins Herz meiner Mitbürger gespielt. Die Jubelchöre „Lauf, Ludwig, lauf!“ begleiteten mich während der Jahre, die ich für den FC Ichenhausen kickte, ja, mein gesamtes Leben. Sie spendeten mir selbst in dunklen Tagen Kraft.“

    Angaben zum Buch: Rafael Seligmann: Lauf, Ludwig, lauf! LangenMüller. 320 Seiten. Hardcover. 24 Euro. ISBN 978-3-7844-3466-7.

    Der Beauftragte der Bundesregierung sprach von einem zunehmend raueren Ton in Deutschland. Es würden Dinge gesagt, die früher – außer von den ewig Gestrigen – nicht einmal denkbar waren. Manches geschehe auch inmitten der Gesellschaft. „Menschenverachtende, antisemitische oder rassistische Meinungen dürfen nicht schweigend überhört werden, auch wenn sie als schlechte Witze daherkommen.“ Er appellierte: „Werden wir zu Spaßverderbern! Stellen wir uns solchen Konflikten in sachlicher Diskussion, auch wenn es unangenehm ist!“ Das Publikum applaudierte – oft an diesem Abend.

    Die Verantwortung lebt weiter

    Zuvor hatte Ichenhausens Bürgermeister Robert Strobel die Gäste begrüßt und an die Verbrechen der Nationalsozialisten erinnert und die „große Verantwortung“ seiner Generation und der nachfolgenden formuliert: „Wir sind verantwortlich dafür, dass sich dieser Teil der Geschichte nicht wiederholt.“

    Im Interview mit unserer Zeitung (Donnerstagausgabe) hat Seligmann von der Begegnung einer Bedienung im Goldenen Hirsch erzählt. Die Frau hatte ihren Namen in der Zeitung gelesen und war gekommen: Ein emotionales Wiedersehen nach vielen Jahren.

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    Die Vertreibung aus dem Paradies Ichenhausen

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