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Kreis Günzburg: Sitzen ist die neue Volkskrankheit

Kreis Günzburg

Sitzen ist die neue Volkskrankheit

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    Etliche verstellbare Stehschreibtische gibt es für die Mädchen und Buben in der Grundschule Waldstetten. Dort können die Kinder bei Bedarf von ihrem festen Sitzplatz aufstehen und im Stehen oder Knien arbeiten. Das Foto zeigt (von links) Lena, Laurin sowie Constanze und Hannah am Stehpult.
    Etliche verstellbare Stehschreibtische gibt es für die Mädchen und Buben in der Grundschule Waldstetten. Dort können die Kinder bei Bedarf von ihrem festen Sitzplatz aufstehen und im Stehen oder Knien arbeiten. Das Foto zeigt (von links) Lena, Laurin sowie Constanze und Hannah am Stehpult. Foto: Bernhard Weizenegger

    So ein Schreibtisch, der mal schnell nach oben gekurbelt werden kann, hat schon was. Nicht ständig nur auf dem Stuhl sitzen müssen, sondern beim Arbeiten auch mal stehen. Viele können davon nur träumen, in der Grundschule Waldstetten gehören solche Pulte seit Jahren aber zur Standardausstattung. In jedem Klassenzimmer stehen gleich mehrere davon. Die Schüler und auch Rektorin Julia Lerch können sich ein Leben ohne die Spezialtische gar nicht mehr vorstellen. „ Hier will keiner mehr sitzen bleiben“, sagt die Schulleiterin. Ob die Kinder eine bessere Leistung bringen, sei schwer zu messen. „Aber sie haben auf jeden Fall gesundheitliche Vorteile.“

    Wissenschaftler sehen im Sitzen eine neue Volkskrankheit. Und es geht nicht mehr nur um Rücken und Bandscheibe. Zu viel Sitzen ist ähnlich gefährlich wie Rauchen, wie unter anderem eine große Studie an 123000 Amerikanern über 14 Jahre hinweg ergab: Bei Vielsitzern (mehr als sechs Stunden täglich) war die Mortalität erhöht (Männer: plus 20 Prozent, Frauen: plus 40 Prozent). Und das galt unabhängig davon, ob die Leute nach dem Sitzen ins Fitnessstudio gingen oder nicht. Das Dauersitzen fängt schon bei den Kleinsten an. Morgens wird der Nachwuchs mit dem Auto zu Kindergarten oder Schule gefahren, dann hocken die Kinder stundenlang im Klassenzimmer, um sich in der Freizeit sitzenderweise mit digitalen Medien zu beschäftigen.

    Eltern und Firmen spenden Geld für höhenverstellbare Tische

    Damit die Schüler sich nicht den Hintern plattsitzen, geht die Grundschule Waldstetten seit dem Jahr 2010 einen anderen Weg. Für die 96 Schüler sind in allen Räumen mindestens zwei höhenverstellbare Tische aufgebaut. Das Geld dafür kam über Eltern- und eine Firmenspende zusammen. Wer nicht mehr sitzen will, wandert mit seinen Schreibutensilien nach hinten an das Stehpult, das einfach mit einem Pedal hoch- oder runtergeschoben und auch gerollt werden kann. Zur Entlastung des Rückens stehen die Schüler zusätzlich in Socken auf einem weichen Fußkissen. „Da darf man nicht nur faul stehen, man ist eigentlich permanent in Bewegung“, erklärt Rektorin Julia Lerch. Natürlich seien die Tische kein Patentrezept für alle, aber missen möchte die Rektorin sie nicht mehr. Im Unterricht von Lehrerin Anke Spatz sind gerade beide Tische besetzt. Julian, 10, hat eine ganz andere Variante gewählt, den Tisch nach unten gekurbelt und sich dahinter gekniet. „Ist bequem“, findet er. Leona, 10, steht am zweiten Pult, das sie „voll cool“ findet. „Wenn wir keinen Sport haben, tut Stehen hier echt gut.“ Streit um die Tische gebe es nicht, sagt die Lehrerin. Jeder dürfe hin, und da sich kaum jemand länger als 20 Minuten daran aufhalte, komme auch jeder mal dran. „Das funktioniert wunderbar. Die Tische sind flexibel und dadurch sind die Kinder flexibler.“ Und sie haben nicht nur einen gesundheitlichen Effekt, sondern noch einen weiteren: Wer gerne schwätzt oder sich leicht ablenken lässt, kommt am Stehpult genauso zur Ruhe wie ein Zappelphilipp. In der Klasse 2a sei der Anteil von quirligen Jungs besonders hoch, deshalb sind hier gleich vier Tische aufgestellt. Das sei sehr praktisch, sagt Julia Lerch.

    Neben den Stehpulten gehört aber auch Bewegung zum Schulalltag. Es gilt das Konzept „Voll in Form“, speziell an Tagen ohne Sportunterricht werden regelmäßig Pausen eingelegt und Übungen gemacht. Fünf bis zehn Minuten, dann lässt sich wieder besser denken.

    Arbeitsplätze sind individuell angepasst

    Ein ähnliches Konzept verfolgt die Firma Alko Fahrzeugtechnik in Großkötz. Sie lässt sich von der Krankenkasse AOK beraten, hat sämtliche Arbeitsplätze der Mitarbeiter individuell anpassen lassen und bietet sogar Rückenkurse an. „Die Gesundheit der Mitarbeiter hat hohe Priorität“, sagt Sprecher Thomas Lützel. Nicht nur, dass an den 315 Büroarbeitsplätzen 75 Stehtische Einzug gehalten haben, auch die Werkbänke in der Fertigung sind zum Teil höhenverstellbar, Fußmatten und Kräne zum Heben sollen rückenschonenderes Arbeiten erleichtern. Außerdem wird Wert darauf gelegt, dass die Mitarbeiter öfter rotieren, ihre Tätigkeiten tauschen oder mal eine Maschine statt von rechts auch von links bedienen.

    Alko ist nicht die einzige Firma, die in Sachen Mitarbeitergesundheit von der AOK beraten wird. 171 Betriebe betreut das Unternehmen inzwischen in den Landkreisen Günzburg und Dillingen, hinzukommen Kindergärten, Schulen und Altenheime.

    Die Liste ist lang, könnte aber durchaus noch länger sein, findet Ottmar Pfanz-Sponagel. „Auf der einen Seite steigt der Anspruch vieler Firmen, auf der anderen gibt es noch viele Unternehmen, die das Thema Gesundheit ihrer Mitarbeiter ignorieren“, weiß der Sportlehrer für Prävention und Reha, der die eigenen Leute bei der AOK und Externe schult. Am liebsten wäre es ihm, einzugreifen, bevor sich der Mitarbeiter eine sogenannte muskuloskelettale Erkrankung eingehandelt hat. Diese Leiden, die die Muskulatur oder das Skelett betreffen, sind laut Pfanz-Sponagel bei Krankschreibungen die Nummer eins. Davon wiederum machen Rückenbeschwerden den Hauptanteil aus. Das Hauptproblem an der Sache: Solange es den Menschen gut gehe, kümmerten sie sich nicht groß um ihre Gesundheit. „Wir reagieren erst, wenn der Leidensdruck zu hoch ist“, sagt der Experte. Doch dann „Kaputtes“ zu reparieren, sei meist viel langwieriger und kostenintensiver als präventiv vorzubeugen.

    Die Ursachen für Rückenschmerzen seien vielfältiger Natur. „Das ist ein wahnsinnig komplexes Thema“, betont der AOK-Fachmann. Da spiele Stress ebenso hinein wie mangelnder Schlaf, falsche Ernährung und natürlich veränderte Arbeits- und Bürozeiten. „Die sitzende Tätigkeit hat für viele extrem zugenommen“, sagt Pfanz-Sponagel. Das fange schon in der Schule an und ziehe sich das ganze Berufsleben hindurch. Aber auch im Privatleben würden die Menschen zu viel sitzen, „wir sind viel zu faul und träge geworden“, nimmt der Experte kein Blatt vor den Mund.

    Der Mensch ist eigentlich ein „Lauftier“

    Dabei sei der Mensch von Natur aus ein „Lauftier“, theoretisch könnte jeder am Tag 20 Kilometer ohne Probleme laufen. Stattdessen wird den ganzen Tag vor dem Computer und anschließend auf der Couch gesessen. Pfanz-Sponagel ist sich sicher, dass dahinter kein Wissensproblem steckt, „das Tun ist ein Problem, die Motivation fehlt“.

    Dabei könne schon mit einfachen, kleinen Mitteln, konsequent und regelmäßig umgesetzt, viel erreicht werden. Dazu gehöre in erster Linie ein optimal eingestellter Arbeitsplatz. Wer nicht im Genuss eines höhenverstellbaren Schreibtisches ist, sollte spätestens alle zwei Stunden aufstehen und herumlaufen. „Sitzen sollte generell so oft wie möglich durch Bewegung ersetzt werden.“ Noch besser wäre es, ein paar Übungen in den Alltag einzubauen. Ein paar Minuten würden schon ausreichen. Aber weil das kaum einer freiwillig macht, hat sich die AOK etwas Neues einfallen lassen und Bewegungsscouts ins Leben gerufen. Will heißen, sie schult Arbeitnehmer, die dann in ihrem Unternehmen die eigenen Kollegen zu Bewegungspausen animieren und sie anleiten. „Wir können nicht überall vor Ort sein, aber darin sehen wir ein brauchbares Mittel, um nachhaltig zu wirken“, sagt Ottmar Pfanz-Sponagel. Die Firmen Britax Römer in Leipheim und Bosch in Dillingen haben bereits Bewegungsscouts vor Ort, im Juni soll bei Alko ausgebildet werden.

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