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Günzburg: Lesung mit Theo Waigel: Die Briefe des Bruders und die Weltpolitik

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Lesung mit Theo Waigel: Die Briefe des Bruders und die Weltpolitik

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    Die Schlange wollte gar nicht enden. Sowohl in der Pause als auch nach der Veranstaltung der Günzburger Zeitung signierte der frühere Bundesfinanzminister Theo Waigel seine Memoiren „Ehrlichkeit ist eine Währung“ im Forum am Hofgarten. Den Erlös des Abends stellt Waigel der Kartei der Not zur Verfügung.
    Die Schlange wollte gar nicht enden. Sowohl in der Pause als auch nach der Veranstaltung der Günzburger Zeitung signierte der frühere Bundesfinanzminister Theo Waigel seine Memoiren „Ehrlichkeit ist eine Währung“ im Forum am Hofgarten. Den Erlös des Abends stellt Waigel der Kartei der Not zur Verfügung.

    Ein Bündel von Briefen, gehalten von einer dünnen Seidenschnur. Nach dem Tod seiner Mutter findet sie Theo Waigel in einem kleinen Koffer. „Ich hatte zunächst Hemmungen, das Bündel zu öffnen, die Briefe zu lesen“, erinnert er sich. Es sind die letzten Briefe seines Bruders August. Er fiel im September 1944 in Lothringen, mit 18 Jahren. Der Krieg hatte im Herbst 1944 fast schon Deutschland erreicht. „Wie es hier steht, wisst Ihr ja selber“, schreibt

    Fast genau 75 Jahre nach dem Tod seines Bruders ist Theo Waigel auf Einladung der Günzburger Zeitung zu Gast im Forum am Hofgarten. Der ehemalige Bundesfinanzminister liest aus seinen Erinnerungen „Ehrlichkeit ist eine Währung“.

    Natürlich sind da diese vielen Windungen und Wendungen der Geschichte, der Weg zur deutschen Einheit, zur europäischen Währung, die Waigel als Politiker maßgeblich mitgestaltet hat. Doch bei all dem wird immer wieder deutlich, wie prägend für das Leben Theo Waigels die dramatischen Ereignisse in der Endphase des Zweiten Weltkrieges und danach waren.

    Der Verlag riet Waigel: "Schreiben Sie doch was Lustiges"

    Die Perspektive von Buchverlagen ist da bisweilen eine andere. „Schreiben Sie doch was Lustiges zum Beginn“, habe ihm der Verlag ans Herz gelegt, berichtet Waigel. Am besten die eine oder andere Anekdote aus den zahlreichen Begegnungen mit bedeutenden Persönlichkeiten der Zeitgeschichte. Doch Waigel beginnt seine Lebensdarstellung ganz bewusst mit Einblicken in seine Kindheit und Jugend, in der der Krieg allgegenwärtig ist. Sein Buch – es ist immer wieder die Botschaft, so etwas nie wieder zuzulassen, es ist sein leidenschaftliches Bekenntnis zu Europa.

    Zweieinhalb Stunden unterhielt Waigel seine Zuhörer mit Ernstem und Heiterem.
    Zweieinhalb Stunden unterhielt Waigel seine Zuhörer mit Ernstem und Heiterem.

    Waigel spricht in der Lesung (moderiert von Till Hofmann, Redaktionsleiter der Günzburger Zeitung, der Reinerlös des Abends kommt der Kartei der Not, dem Hilfswerk unserer Zeitung, zugute) immer wieder darüber, wie der Krieg das Leben von sehr jungen Menschen zerstört hat.

    Zur Ouvertüre von Waigels Lesung spielt die zehn Jahre alte Pia Wagner auf ihrer Harfe. Auch das steht für die Botschaft dieses Abends. Europa und seine Entwicklung: „Das ist das Beste, was uns passieren konnte“, sagt Waigel.

    Theo Waigels ältestes Buch: Eine Ausgabe von Grimms Märchen

    Vor ihm auf dem Tisch liegt eine alte Ausgabe von Grimms Märchen. Es ist Waigels „ältestes Buch“. 1946 hatten die Waigels das aus dem Egerland vertriebene Lehrerehepaar Diwisch bei sich aufgenommen. 50 Kilo Gepäck, das blieb einem Heimatvertriebenen von seinem Leben. Das lässt ahnen, welche Bedeutung ein Buch wie Grimms Märchen in einer solch bedrängten Lebenslage haben konnte. „Angela

    Rund sieben Jahrzehnte sind seitdem vergangen. Als Waigel über sein „ungeheuer großes Archiv“ in seinem Heimatort Oberrohr spricht, wird die geradezu fulminante Dimension seines Lebens spürbar.

    Der rasche politische Aufstieg des Bauernsohns aus Oberrohr, CSU-Vorsitz, Bundesfinanzminister, maßgeblicher Mitgestalter der deutschen Einheit, Wegbereiter des Euro: All das ist vielfach beschrieben worden. Doch da war auch dieser Tiefpunkt, in den frühen 90er-Jahren. Bayerischer Ministerpräsident? Es wurde Edmund Stoiber, nicht Theo Waigel. Und da sind auch die Begleitumstände. Waigel spricht darüber, wie Journalisten über sein Privatleben „gefüttert“ wurden. Aber er sagt auch: „Ich trete nicht nach.“

    Die CSU-Vorsitzenden seit 1945

    Josef Müller (Dezember 1945 bis 1949), Oberfranke aus dem Kreis Kronach: Der legendäre „Ochsensepp“ hob die Partei mit aus der Taufe. Müller setzte die konfessionelle Öffnung der CSU durch.

    Hans Ehard (1949 bis 1955), Oberfranke aus Bamberg: In seine Amtszeit fiel die größte Niederlage der CSU: Bei der Landtagswahl 1950 lag die SPD mit 28 Prozent leicht vor der CSU.

    Hanns Seidel (1955 bis 1961), Unterfranke aus Aschaffenburg: Er sorgte in der CSU für ein Ende der jahrelangen Flügelkämpfe.

    Franz Josef Strauß (1961 bis 1988), Oberbayer aus München: Er prägte die Partei von 1961 bis zu seinem Tod 1988 länger als jeder andere Vorsitzende. 1979 wurde er mit 99,0 Prozent im Amt bestätigt.

    Theo Waigel (1988 bis 1999), Schwabe aus dem Kreis Günzburg: Nach dem Tod von Strauß setzte er auf einen Kurs zwischen „Tradition und Fortschritt“.

    Edmund Stoiber (1999 bis 2007), Oberbayer aus Wolfratshausen: „Laptop und Lederhose“ war das Sinnbild der Ära Stoiber. Er verordnete Bayern einen strikten Sparkurs.

    Erwin Huber (2007 bis 2008), Niederbayer aus dem Kreis Dingolfing: Nach dem nicht ganz freiwilligen Rückzug von Stoiber wurde er an die Spitze der CSU gewählt. Ein Jahr später verlor die CSU die absolute Mehrheit im Landtag, und Huber wurde von Horst Seehofer abgelöst.

    Horst Seehofer (2008 bis 2019), Oberbayer aus Ingolstadt: Machte von 1980 bis 2008 auf Bundesebene Politik. War unter anderem Gesundheitsminister und galt lange als das soziale Gewissen der CSU und Anwalt der kleinen Leute. Nach jahrelangem Machtkampf folgt auf ihn sein Erzrivale Markus Söder.

    Im Nachrichtenmagazin Spiegel erscheint 1992 die Schlagzeile „Der Versager“. Das muss man erst einmal verdauen. An diesem Abend in Günzburg wird aber auch deutlich, wie wichtig der Humor für Waigel als Lebensbegleiter gerade in solchen Situationen war und ist. Jahrzehnte nach der Spiegel-Schlagzeile steht Waigels Buch neun Wochen lang auf der Bestsellerliste des Nachrichtenmagazins. „Als Christ darf man natürlich keine Rachegefühle haben“, sagt Waigel. „Aber ein bisschen druckt es dann halt hier und da doch schon durch.“ Er lächelt. Von seinem Buch sind inzwischen rund 21000 Exemplare verkauft, eine Auflage als Taschenbuch ist geplant.

    Ein Politikerleben zwischen den Schwergewichten Kohl und Strauß

    Waigel – das ist auch ein Politikerleben zwischen Kohl und Strauß. Als Waigel über die vielen Begegnungen mit diesen beiden politischen Schwergewichten berichtet, wird immer wieder deutlich, welch schwierige Gratwanderung für ihn persönlich das war. Waigel hat sich schon damals in wichtigen politischen Fragen nicht immer auf der Linie der CSU positioniert. 2018 beispielsweise hat er Bundeskanzlerin Angela Merkel zu einem europapolitischen Symposium nach Ottobeuren eingeladen. Es war in der Zeit, als sich

    Die Wanderungen mit seiner Frau Irene geben ihm Kraft

    Waigel, der im April 80 Jahre alt wurde, hat immer wieder betont, dass zur Ehrlichkeit gegenüber sich selbst auch der bewusste Umgang mit der eigenen Zeit gehört. (Lesen Sie dazu auch: Theo Waigel und ein „Lebensweg mit großer Konsequenz“) „Was bedeutet das Thema Tod für Sie?“, fragt Moderator Till Hofmann. „Es ist richtig und notwendig, sich damit zu beschäftigen – aber ohne Angst zu haben.“ Mit seiner Frau Irene kann er bald Silberhochzeit feiern: „Ohne Irene wäre ich wohl ein trauriger, verbitterter, alter Mann.“ Immer wieder ist er mit seiner Frau in den Bergen unterwegs.

    Waigel erzählt von einer Wanderung im Lechtal, strahlender Sonnenschein, ein herrlicher Tag. Die beiden begegnen einem deutschen Touristen. „Sind sie Theo Waigel?“, fragt er. Waigel sagt „nein“. „Ach ja, der Waigel ist ja schon gestorben“, glaubt sich sein Gegenüber zu erinnern. Waigel: „Ja, vor zwei Jahren.“ Die Fähigkeit zur Selbstironie, sie ist selten geworden. Wie wichtig und wohltuend sie sein kann – auch das lässt Theo Waigels Lesung in Günzburg ahnen.

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