Noch immer sind die Meere Sehnsuchtsort für viele Menschen. Sonne, Strand und Meer war lange Zeit ein Urlaubsversprechen. Wie lange lässt es sich noch halten? Oder anders gefragt: Wie können wir noch verhindern, dass die ersten Inseln untergehen?
Nikolaus Gelpke: Die Klima-Debatte, die auch über Greta Thunberg wieder öffentliche Aufmerksamkeit erlangt hat, muss viel ernster geführt werden. Wir erkennen ja schon die massiven Folgen des Klimawandels. Der Dorsch zum Beispiel ist schon aus der Ostsee in den Norden ausgewandert, aber auch in der Arktis wird es vielen Lebewesen zu warm. Ganze Grundlagen der Nahrungskette verschwinden, und damit verändert sich das ganze Ökosystem. Das Kind ist schon in den Brunnen gefallen. Und wir müssten so schnell wie möglich gegensteuern. Es kann doch nicht sein, dass wir die Zukunft unserer Kinder aufs Spiel setzen. Ehrlich gesagt, mir wird Angst und Bange, wenn ich mir die Meere anschaue.
Vor kurzem ist der neue Zustandsbericht über die Meere, der World Ocean Review (WOR), erschienen. Was erwartet die Nutzer unter dem Titel „Lebensgarant Ozean – nachhaltig nutzen, wirksam schützen“?
Gelpke: Der Ozean ist viel mehr als wir wahrnehmen, wenn wir auf das Wasser blicken. Wie lebensnotwendig er ist, ist den meisten nicht bewusst. Er dient nicht nur als Transportweg oder als Nahrungsquelle. Der Ozean ist als komplexes Ökosystem heute mehr denn je verantwortlich für unser Überleben. Der Review zeigt all diese Aspekte. Und er macht klar, dass wir den Lebensgaranten Ozean schützen müssen.
Viele der Erkenntnisse machen Angst. Demnach haben wir Menschen 66 Prozent der marinen Lebensräume maßgeblich verändert und der Ozean hat seine Belastungsgrenze erreicht. Wie dramatisch ist die Situation?
Gelpke: Viel schlimmer als allgemein bekannt. Das Meer stirbt gerade an Multiorganversagen. Erwärmung und Versauerung sind Umwälzungen, die unsere Lebensgrundlagen in Gefahr bringen. Das darf Angst machen.
Die Erwärmung der Meere bedroht auch die Artenvielfalt. Schon jetzt nimmt die Korallenbleiche zu. Wie gefährlich ist der wachsende Sauerstoffmangel für andere Meereslebewesen?
Gelpke: Ohne Sauerstoff kein Leben, so einfach ist das. Die Todeszonen breiten sich aus – in erster Linie aufgrund der Überdüngung. Dort sterben nicht nur die Tiere, sondern alles Leben.
Die Schifffahrt trägt zu einem großen Teil zum Klimawandel bei. Vor allem die Containerschiffe fahren immer noch mit dem umweltschädlichen Schweröl. Wie sinnvoll wäre eine Umstellung auf LNG wie bereits bei einigen neuen Kreuzfahrtschiffen?
Gelpke: Die Schiffe müssten schon lange nicht mehr mit Schweröl fahren. Da wäre Diesel noch besser, zum Beispiel GTL-Diesel aus Erdgas und ohne Schwefelanteil. LNG ist kein großer Fortschritt, aber es ist eben auch günstiger als Schweröl. Einige Reedereien versuchen schon umzustellen. Aber das muss man kritisch betrachten, denn bei der LNG-Produktion fällt Methan an, ein schlimmeres Klimagift als CO2. Somit dient dies auch eher der Beruhigung kritischer Touristen. Diese ganze Umstellungsdebatte ist eigentlich pure Augenwischerei. Denn es gäbe ja Alternativen wie Brennstoffzellen. Immerhin fahren deutsche U-Boote seit den 1990er Jahren damit. Aber das ist eine längerfristige Frage der Kosten und des Marktes. Und natürlich wehrt sich die Lobby gegen alles, was Gewinne momentan mindert.
Wenn LNG fast so schädlich oder womöglich noch schädlicher ist, als der herkömmliche Treibstoff, wie steht es dann um die Zukunft der Schifffahrt?
Gelpke: Die Schifffahrt ist auf keinen Fall gefährdet. Aber es wird lange dauern, um wieder vom LNG wegzukommen, wenn dieses erst einmal etabliert wurde.
Die Schifffahrt ist auch aus einem anderen Grund in der Kritik. Der Lärm der Schiffe schadet den Lebewesen im Meer. Warum wurde bisher so wenig dagegen unternommen, obwohl die Meeresstrategie-Rahmenrichtlinie aus dem Jahr 2008 festschreibt, dass spätestens ab 2020 Unterwasserlärm nur noch in einem so geringen Ausmaß verursacht werden darf, dass er der Meeresumwelt nicht schadet?
Gelpke: Da sind wir wieder bei den Kosten. Richtlinien dauern ewig, bis sie umgesetzt werden. Denken Sie nur an den Doppelhüllentanker, der schon seit den 1960er Jahren gefordert wurde. Bis heute fahren noch Tanker mit Einfachhüllen. Da gibt es Bestandsschutz. Das heißt, die Schiffe, die jetzt fahren, können so viel Lärm machen, wie sie wollen.
Zusammenstöße mit Schiffen sind für Wale oft tödlich. Was kann man tun, damit diese extrem gefährdeten Tiere besser geschützt sind?
Gelpke: Das wäre relativ einfach. Es gibt z. B. ein Kamerasystem namens OSCAR, das Wale vorausschauend erkennen kann. Man müsste nur das System installieren.
Auf dem Meer schwimmen inzwischen schon ganze Inseln aus Plastikmüll. Daran ist nicht nur die Schifffahrt schuld. Aber immer noch entsorgen viele Schiffe ihren Müll und ihre Abwässer im Ozean – mit weitreichenden Folgen. Welche Maßnahmen wären hier wirksam?
Gelpke: Es gibt sicher zu viel Plastik im Meer, und die Plastik-Problematik hat die Meere in den Fokus der Aufmerksamkeit gerückt. Doch im Vergleich zur Erwärmung oder Versauerung ist Plastik eine relativ kleine Gefahr. Dass Plastikmüll nicht in die Meere gehört, kann jeder nachvollziehen. Sobald ich aber anfange von Ph-Werten oder vom Kohlenstoffkreislauf zu reden, schalten die meisten Leute ab. Natürlich müssen wir Plastikmüll massiv reduzieren. Aber die Plastikdiskussion darf nicht die anderen, viel dringenderen Probleme marginalisieren.
Glauben Sie denn, die neue Regierung könnte das Steuer noch herumreißen?
Gelpke: Wir werden erst noch sehen, wie die Ampelkoalition in der Realpolitik mit ihren Kompromissen ankommt. Ich glaube aber nicht, dass die Maßnahmen ausreichen. Das Problem ist, dass das Ökosystem komplett kippt. Wir müssen dieses als Ganzes erkennen. Ein Beispiel: Im Ozean stellen sogenannte Coccolithophoriden, einzellige, sehr kleine Algen, eine der Grundlagen der Nahrungskette dar. Und durch die Versauerung können sich deren Kalkschalen auflösen. Wenn die Nahrungskette ausfällt, stirbt das Meer. Also: Denkt nicht nur an die Wale, denkt auch an die Coccolithophoriden. Als nur ein Beispiel, dass wir genauer hinschauen müssen, mehr verstehen, als nur das, was wir oberflächlich wahrnehmen. Fest steht, wenn wir jetzt nicht wirklich radikal handeln, verspielen wir unsere Zukunft. Der World Ocean Review könnte ein Bewusstsein für die Dringlichkeit schaffen, indem er die ganze Komplexität der Gefahren darstellt.
Zur Person: Nikolaus Gelpke, 59, hat Meeresbiologie studiert. Er ist „mare“-Verleger und Präsident des International Ocean Instituts. Vor zehn Jahren hat er den ersten World Ocean Review initiiert. Gelpke ist Präsident der Ocean Science and Research Foundation, des International Ocean Institute sowie Schirmherr der GAME am GEOMAR in Kiel. Außerdem ist er Mitglied im Beirat der Deutschen Umweltstiftung und Mitglied im Kuratorium von GEOMAR.