Dass Deutschlands höchster Punkt auf der Zugspitze liegt, weiß jedes Kind. Aber wo liegt der nördlichste, der südlichste oder der östlichste Punkt der Republik? Der westlichste, so viel wird verraten, ist in Nordrhein-Westfalen zu finden. Im Kreis Heinsberg, um genau zu sein. Heinsberg? Da war doch was? Genau! Als erster Corona-Hotspot der Bundesrepublik geriet der Landkreis an der niederländischen Grenze nördlich von Aachen Ende Februar in die Schlagzeilen. Touristisch hat sich die Region, die die Einheimischen liebevoll „Heinsberger Land“ nennen, bis heute nicht so richtig vom Negativ-Image erholt. Schade! Denn die abwechslungsreichen und naturnahen Landschaften zwischen den Flüssen Maas, Rur und Wurm sind touristisch gut erschlossen und lassen sich wunderbar entschleunigend mit dem Rad oder zu Fuß entdecken. Und was das Infektionsgeschehen angeht: Da steht Heinsberg besser da, als manch andere Regionen.
Auch wer Superlative sucht, wird – wie erwähnt – fündig: Der westlichsten Punkt Deutschlands liegt hier, an der Kreisstraße 1, am Rande eines Dörfchens mit dem Namen Isenbruch. „Hier geht in Deutschland die Sonne unter“, stellt Hardy Schiszler augenzwinkernd fest. Der 58-Jährige ist im Vorstand der Heinsberger Ortsgruppe des ADFC (Allgemeiner Deutscher Fahrradclub). Vor mehr als 20 Jahren ist der gebürtige Neckarsulmer von Baden-Württemberg nach Heinsberg gezogen. Der Liebe wegen, seine Frau ist von hier. Als ADFC-Tourenleiter bietet er auch immer wieder geführte Ausflüge in der Region an – natürlich auch zum sogenannten „Westzipfel“. 2015 hat der Landkreis viel Geld in die Hand genommen, um den bis dahin unspektakulären Ort als Ausflugsziel aufzuwerten und – so hoffte man jedenfalls – einen Touristenmagneten aus ihm zu machen.
Ein Besuch lohnt sich auf jeden Fall. Da der Rodebach die Grenze zwischen Deutschland und den Niederlanden bildet, liegt Deutschlands westlicher Punkt mitten im Wasser. Er wird über einen hölzernen Steg erreicht. Originell ist, dass das Ende des Stegs mit Holzwänden und einem Sitzbrett so gestaltet wurde, dass man im Westzipfel Platz nehmen kann. Während die Beine noch in Deutschland baumeln, befindet sich der Hintern bereits in den Niederlanden. Ein Radweg zu den niederländischen Nachbarn wurde ebenfalls eingerichtet. Über eine im Knotenpunktsystem geführten Tour erreicht man nach nur acht Kilometern außerdem das belgische Städtchen Maaseik. Binnen kürzester Zeit drei Länder abradeln – wo geht das schon?
Der europäische Gedanke ist in Heinsberg präsent
Das Knotenpunktsystem, dass sich die Heinsberger von ihren westlichen Nachbarn, den Belgiern und den Niederländern, abgeschaut haben, findet Rad-Fex Hardy großartig. „Wegweiser entlang der Radwege leiten von Knotenpunkt zu Knotenpunkt“, erklärt er. „Das macht es leicht, die gewünschte Route auch ohne GPS oder Navi zu finden“. Die unmittelbare Nähe zu den Nachbarn mache die Menschen in der Region zu echten Europäern, schwärmt er.
Denn in der Vergangenheit war das friedliche Zusammenleben von Niederländern, Belgiern und Deutschen keineswegs selbstverständlich. Von den Territorialkämpfen zeugen bis heute einige teils gut erhaltene und sehenswerte Burgen und Stadtbefestigungen, wie die mächtigen Stadttore von Gangelt oder die Burg Trips. Das herrschaftliche Gebäude aus dem 15. Jahrhundert ist von einem 8,4 Hektar großen Park und imposanten Kastanienalleen umgeben und zählt zu den schönsten Wasserburgen am Niederrhein.
Rund um Heinsberg liegt eine hügelige Landschaft
Landschaftlich geprägt wird der Kreis Heinsberg von der flachwelligen bis fast ebenen sogenannten Jülich-Zülpicher Börde. Deren fruchtbarer Lössboden wird überwiegend landwirtschaftlich genutzt. Die meisten Radrouten verlaufen deshalb verkehrsarm entlang von Wiesen und Feldern, auf denen Getreide, Raps oder Zuckerrüben angebaut werden. Aber auch Spargel und Erdbeeren gedeihen hier prima. Im Herbst kommen Kürbis, Kohl, Maronen, Wild und Gans „direkt von Feld und Wald auf den Teller“. 2019 haben mehr als 40 regionale Gastronomen und Erzeuger zur Regionalmarke „Heinsberg – das schmeckt“ zusammengeschlossen. Für Stärkung ist also unterwegs gesorgt. Aber wehe dem, der beim Radeln den Wind nicht im Rücken hat.
Dann werden selbst relativ leichte Anstiege zur Tortur – wie etwa der zur Windmühle in Breberen, einem pittoresken Kleinod aus dem Jahr 1842. Als langjähriger Tourenleiter weiß Hardy natürlich, wie man die Motivation erhöht: „Im Mühlencafé gibt es den besten Apfelkuchen im Kreis Heinsberg“, lockt er. 19 Windmühlen gab es einst in der Region, von denen leider nur fünf erhalten sind. Mit der Selfkant-Mühlenstraße hat der Verein Historische Mühlen im Selfkant einen 25 Kilometer lange Radtour geschaffen, der den Mühlenreichtum der Gegend erkennen lässt. Der Verein bietet auch geführte Besichtigungen an. Echte Müller zeigen dann, wie das Korn zu Mehl gemahlen wird.
Mühlenreich präsentiert sich auch der Norden der Region. Allerdings sind es hier Wassermühlen und auch dafür gibt es einen guten Grund: die Bachläufe von Schwalm, Mühlbach und Beeckbach sorgten für ideale Bedingungen. Verschiedene Wander- und Radrouten führen heute zu mehr als einem Duzend Mühlen, von denen die ältesten aus dem Mittelalter stammen und der Gegend einen ganz eigenen Charme verleihen. Mal mystisch, wenn Nebel aufzieht, mal idyllisch im Sonnenlicht.
Vogelkundler kommen hier auf ihre Kosten
Neben Windkraft, Landwirtschaft und Tourismus ist der Abbau von Kies und Sand ein weiterer wichtiger Wirtschaftsfaktor. Gäste und Einheimische freut es, denn einige der ehemaligen Kiesgruben sind inzwischen Landschaftsschutzgebiete. Der Adolphosee, der Lago Laprello und der Effelder Waldsee sind die größten und die beliebtesten. Schwimmen darf man in den letzteren, als Kapitän ein Manöver fahren in allen. Vogelkundler kommen ebenfalls auf ihre Kosten – vor allem im Frühjahr und Herbst.
Und dann gibt es auch noch das mittelalterlich geprägte Städtchen Wassenberg. „Es gehört zu den wenigen Städten am Niederrhein, die einen Berg besitzen“, sagt Hardy witzelt der Baden-Württemberger Hardy. Gekrönt wird dieser Berg übrigens von einer Burg. Der Bergfried dient heute als Aussichtsturm. Von oben genießt man einen tollen Rundumblick auf Deutschlands ersten Corona-Hotspot, das schöne Heinsberger Land.
Jetzt heißt es einmal tief durchatmen, ins Licht der untergehenden Sonne blinzeln und Corona einfach mal Corona sein lassen.
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