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Immer ostwärts: Reise-Kolumne: Und jetzt geht es an die Seidenstraße

Immer ostwärts

Reise-Kolumne: Und jetzt geht es an die Seidenstraße

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    Die Reise beginnt vor der eigenen Haustür. Bastian Sünkel will als Anhalter unterwegs sein.
    Die Reise beginnt vor der eigenen Haustür. Bastian Sünkel will als Anhalter unterwegs sein. Foto: Argentina Santa Cruz

    Martin kann noch lachen. Das freut mich. Ich hätte anders reagiert, wenn mich ein paar Minuten vorher die Polizei aus dem Verkehr gezogen hätte. Wir passieren gerade in seinem BMW die Stadtgrenze Prags von Süden her. Zum ersten Mal seit eineinhalb Stunden schweigt die spontane Fahrgemeinschaft. An der ersten roten Ampel blickt mich Martin an – und bricht in schallendes Gelächter aus. Martins Lachen ist nicht hämisch. Er wird sich gerade bewusst, wie skurril die Situation eigentlich ist.

    Seit zehn Jahren habe er niemand mehr an dieser Straße trampen sehen. Früher war er es, der sich für die Party im Nachbarort an die Straße gestellt hat. Mittlerweile haben die Menschen aber mehr Angst, sagt er. Die Fahrer, frage ich. Alle, sagt Martin. Die Menschen sind verängstigt. Er ist auf dem Weg von Karlsbad nach Prag. Die Mexikanerin Argentina und ich wollen von Oberfranken in die Türkei und ich will allein weiter nach China. Er, der Geschäftsmann mit Meeting um 17 Uhr in der Innenstadt. Wir, die Reisenden ohne Zeitdruck und Auto, mit Rucksack und Schild. Martin hat uns kurz hinter

    Martin reserviert die Präsidentensuite

    Dazwischen liegen noch ein paar Asphaltkilometer. Ein tschechischer Millionär ruft auf der Freisprechanlage an, reich geworden als Geschäftsführer einer Wettbürokette. Martin arbeitet für ein Reisebüro und reserviert für den Millionär in Karlsbad die Präsidentensuite und zwei sündhaft teure Zimmer zusätzlich. Dann zieht uns die Polizei aus dem Verkehr. Martin war zu schnell. Knapp 180 bei erlaubtem Tempo 130. Unser Fahrer erklärt dem Polizisten, dass er die Mexikanerin und den Deutschen zum Flughafen fahren muss und deswegen so schnell unterwegs war. Auch wenn die Geschichte nichts dazu beiträgt: Am Ende darf er seinen Führerschein behalten. In dem Moment, als Martin lacht, weiß ich, dass es die richtige Entscheidung war, mich wieder auf den Weg zu machen. Solche Geschichten spielen auf der Straße.

    Eigentlich dürfte ich nicht in Tschechien sein. Nicht mit Argentina und Martin im Auto sitzen und, wenn überhaupt, nicht in diese Richtung trampen. Hätte ich direkt beim ersten Versuch die Welt umrundet, ich wäre von Osten, aus Asien, über Osteuropa nach Deutschland zurückgekehrt. Aber dann hatte ich Rücken. Wenn ich die Ärzte richtig verstanden habe, hat mich nach sieben Monaten Reisen durch Island, den USA, Mexiko und Guatemala ein subligamentärer Bandscheibenvorfall im Liegen überrascht. Für Medizinlaien wie mich heißt das übersetzt: Dank des Zusatzes „subligamentär“ ist mein Vorfall weniger schlimm als ein großer. Aber wenn ich mich von den Schmerzen befreien will, sollte ich einigermaßen diszipliniert trainieren. Tag für Tag wiederhole ich ab November die Übungen, denen ich Namen gebe, um mir die Abfolge zu merken: „Latino im Liegen“, „Hund ohne Hinterbeine“ und zum Abschluss „Sex ohne Partner“. Übt man brav, wie von den Physiotherapeuten aufgetragen, sticht nur noch selten links der Lendenwirbel – und wenn die Muskeln wieder verspannen, dreimal „Hund ohne Hinterbeine“ und die Reise geht weiter.

    Die Reise. Seit ich in Frankfurt gelandet und wieder in Franken angekommen bin, im Haus meiner Eltern, wollte ich den Gedanken nicht begraben, dass ich irgendwann weiterziehen werde. Die Physiotherapie hatte einen Vorteil: Ich konnte mich bei ein paar Minuten Gymnastik darauf konzentrieren, meinen Körper zu reparieren.

    Bastian Sünkel hat oft gezweifelt

    Weniger einfach lässt sich das Chaos im Kopf entwirren. In sieben Monaten Heimaturlaub habe ich oft daran gezweifelt, ob es das Richtige ist, nur dieses Ziel vor Augen zu haben und sonst in den Tag hinein zu leben. Einen Tag stehe ich früher auf, den anderen später, manchmal gar nicht. Ein Tag wird geschrieben, an einem fotografiert, an einem anderen passiert nichts. Andererseits habe ich wieder die Chance, Familie und Freunde zu besuchen, mir für alle Zeit zu nehmen … Aber dann gibt es auch die Stimmungsschwankungen, die nach einigen Wochen zum Alltag werden. Sind das doch depressive Züge? Im Radio diskutieren Langzeitreisende und ein Wirtschaftspsychologe über die Rückkehr in die Arbeitsgesellschaft. Die Generation Sabatical stürzt sich in Selbstzweifel und ich hinterher.

    Ein anderer Reisender holt mich aus dem Loch. Der Journalist Dan Kieran hat über die Philosophie des langsamen Reisens ein Buch veröffentlicht. Pointiert, mit unmissverständlichen Tipps, in rückenschonender Größe für den Rucksack. In einem Kapitel schreibt er über eine Form des Reisens, die so naheliegend wie ungewöhnlich ist: Bleib zu Hause! Er meint damit, die eigene Heimat neu zu erkunden. Kieran macht sich auf den Weg entlang der Routen, die er sonst mit dem Auto oder im Zug zurücklegt. Langsam, zu Fuß, als Tourist im eigenen Vorgarten. Ich habe eh keine andere Wahl, folge ihm und stelle fest, dass die einzige sinnvolle Vorbereitung für eine Reise um die Welt vor der eigenen Haustür beginnt.

    Ich musste raus. Mein Versuch, von Oberfranken aus an die Zugspitze zu wandern, scheitert zwar dank eines heimtückischen Darmvirus bereits an der Donau, aber immerhin rüstet mich die Erfahrung für den zweiten Teil der Weltreise. Ich leg mir neues Equipment zu – festere Schuhe, kleinerer Rucksack, leichtere Kamera – und entdecke auf dem Weg, dass es keinen Sinn macht, sich ständig mit Zukunftsängsten zu beschäftigen. Stattdessen plane ich die Tour nach dem Bauchprinzip.

    Es geht entlang der neuen Seidenstraße

    Der Osten ist wegen meiner Bandscheibe nicht weiter in die Ferne gerückt. Eine Route zeichnet sich ab: entlang der neuen Seidenstraße, wie die „Belt-and-Road-Initiative“ Chinas oft bezeichnet wird. Osteuropa, Balkan, Griechenland, Türkei und weiter in den Osten. Ohne Flug, per Anhalter, mit dem Bus, mit Boot oder Bahn. Zwischenzeitlich sagt mir Argentina zu, dass sie mich für zwei Monate bis Istanbul begleiten wird. Sie ist Fotografin und hat noch nie Europa besucht. Seit Oaxaca ist unser Kontakt nicht abgerissen. Der Start fällt zu zweit zweifellos leichter. Ob ich jemals in China ankommen werde, weiß ich nicht.

    Wahrscheinlich ist es auch nicht der Sinn des Reisens, das Ziel zu erreichen. Nach einem Tag mit fünf Fahrern und gerade einmal 250 Kilometer von der eigenen Haustür entfernt, lässt uns Martin an der Metrostation Andél aussteigen. Prag ist kein Neuland für mich, doch an diesem Wochenende hat sich die Stadt verwandelt. Von meinen Freunden Corinna und Pawel erfahre ich von den Protesten und wenig später bin ich Teil der Massen, die sich Richtung Letná bewegen. Mehr als 250000 Menschen versammeln sich vor der Bühne auf dem weiten Platz neben Plattenbauten und Sparta-Stadion, um gegen Premierminister Andrej Babiš und Präsident Milos Zeman zu protestieren – der größte Protest in Tschechien seit 1989. Die Demokratiebewegung fordert durch die Lautsprecher vermisste Moral in der Politik ein, die gelben Sterne auf blauem Grund der EU sind neben der tschechischen Trikolore die zweithäufigste Flagge. Vom Dach des Plattenbaus blicken hunderte Menschen mit und ohne Fahnen auf den Letná herab, zwei Stockwerke unter ihnen ein Transparent: „Wahrheit und Liebe müssen sich gegen Lügen und Hass durchsetzen.“ Plakatives aus dem Jahr der Samtenen Revolution. Hier ist keine Angst zu spüren.

    Ich fühle erneut, was das Glück des Reisens bedeutet: Ohne Plan am richtigen Ort zu sein, den ich überall auf der Welt finden kann.

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