Es fängt an wie in fast jeder italienischen Altstadt: Ein Bummel durch Gassen mit kleinen Läden, Obstkarren und Straßenhändlern. Nach Espresso und Gelato mal rüberschauen zur Piazza Vittorio Veneto. Durch einen Torbogen geht’s hier auf eine Aussichtsplattform. Nichts und niemand bereitet die Besucher vor auf das nun in den Blick geratene Panorama: ein Schlund von fast 180 Grad. Drei, vier Stockwerke – mehr als 100 Treppenstufen – tief geht es hinunter in diese Schlucht, die der Fluss Gravina jahrtausendelang in den weichen Kalksandstein gewaschen hat. Bebaut ist die kraterartige Senke fast bis zum Horizont mit geduckten, beigen Kastenhäusern, scheinbar wahllos zueinandergestellt und aufeinandergestapelt – ein atemberaubendes Foto-Panorama, durchzogen von Gassengewirr und gespickt mit schwarzen Löchern. Höhlen sind es, Sassi genannt, das italienische Wort für Steine. So heißen die in der Schlucht liegenden Keller-Stadtviertel Materas bis heute. 60 ehemalige Felsenkirchen befinden sich darin und unzählige Wohnungen, seit der Spätantike jahrhundertelang in die Felsen geschlagen und gebohrt.
Tagsüber erscheinen die Sassi auf den ersten Blick etwas schäbig. Sandfarbene Fassaden mit Grauschleier, zugesperrte Tordurchgänge, hinter denen es aussieht wie am Sperrmülltag. Holprige Kopfsteinpflasterwege, bröckelnde Fassaden, die allmählich von wuchernden Pflanzen erobert werden. Dazwischen aber herausgeputzte Läden, ein paar Hotels, Wohnungen. Mauersegler kreisen darüber, die irgendwo in diesem Wimmelbild ihre Nester haben. Abends weicht dann jeglicher Schmuddel-Eindruck, und die Sassi erstrahlen als aufgehübschte Diva der blauen Stunde. Abendsonnenstrahlen tauchen die Höhlenschlucht in violettes Licht, mittendrin wirken gelbe Straßenlaternen wie Glühwürmchen. Restaurants öffnen, Gäste sitzen auf winzigen Terrassen davor.
Ein Hotel in 16 Höhlenräumen
Diese einmalige Atmosphäre kann man am besten erleben, wenn man eine Nacht im Schlund von Matera verbringt. Im „Hotel Sassi“ etwa. Es besteht aus einigen miteinander verbundenen Höhlen. Eine ehemalige Felsenwohnung mit grandiosem Blick über den Sasso Barisano. Abends fällt man in ein Bettgestell direkt unterm Tuffsteingewölbe. Möglich, dass nachts nicht nur der Sandmann was in die Augen streut, sondern auch feiner Staub von der Decke rieselt. Das „Sextantio Le Grotte della Civita“ hat 16 Höhlenräume, eingerichtet mit renovierten Eisen- und Holzbettgestellen, von den Betreibern aus einst aufgegebenen Häusern der Umgebung zusammengesucht. Die Seifen im Bad duften nach Veilchen und sind selbst gemacht.
Noch bis in die 1950er Jahre gehörte Seife hier nicht zum Alltag. Damals hausten 15.000 Menschen unter ärmlichsten Verhältnissen. Keine Heizung, kein Strom, kein fließend Wasser, die Abwässer wurden einfach in Bäche geleitet. „Christus kam nur bis Eboli“, stöhnten die Leute resigniert, meinten damit eine Stadt, 170 Kilometer entfernt, und ihre eigene Hoffnungslosigkeit, in der nicht mal ihr strenger katholischer Glaube als Trostspender taugte. Der 1936 von Mussolinis Faschisten nach Matera verbannte Arzt, Maler und Schriftsteller Carlo Levi hörte diesen Klagespruch immer wieder, machte ihn zum Titel seines 1945 erschienenen, weltberühmten Buchs. Darin beschreibt er Menschen, die mit ihrem Vieh in den Höhlen lebten wie ihre Vor-Vorfahren im Mittelalter, er erzählt von hungernden Kindern mit Malaria-Mücken im Gesicht.
Geflohen waren die Menschen hierher in den Jahrzehnten zuvor als Opfer einer Agrarreform. Der italienische Ministerpräsident de Gasperi, aufgeschreckt durch das Buch und daraus resultierenden, hitzigen Parlamentsdebatten, verfügte 1952, die Sassi von Matera sofort zu räumen. Die Menschen bekamen eilig aus dem Boden gestampfte Neubauwohnungen am Rand der heute etwa 60.000 Einwohner zählenden Provinzhauptstadt. „La Vergogna Nazionale“, die Schande Italiens, sollte raus aus den Schlagzeilen.
Die ideale Reisezeit: Ende Juni bis Anfang Juli
Die Sassi wurden zeitweise Heimat für Künstlergruppen, in den Sechzigern mal Filmdrehort für Regisseur Pier Paolo Pasolini und seit den 1980er Jahren Höhle für Höhle wiederbelebt – mit einem speziellen Abkommen zwischen italienischem Staat und Matera, günstigen Krediten sowie Subventionen für Investoren. Seit 1993 sind die Sassi Weltkulturerbe. Aber weil sie heute immer noch stellenweise anmuten wie zu biblischen Zeiten, kann man mit Glück Hollywoods Drehteams in Matera erleben. 2015 etwa wurden hier Szenen vom Remake des altrömischen Wagenrennen-Klassikers „Ben Hur“ gedreht – diesmal mit Jack Huston und Morgan Freeman,.
Täglich – und mittendrin statt nur dabei hinter Filmdreh-Absperrungen – können Matera-Besucher nachempfinden, wie die Menschen in den Sassi einst gehaust haben: In der „Storica Casa Grotta“, einer wieder eingerichteten „Musterwohnung“, schieben sich Neugierige staunend zwischen dem mitten im Raum stehenden Webstuhl, diversen Kinderbetten, einem lebensgroßen Pferd und einer Speisekammer-Nische durch. „Ja, so haben auch meine Großeltern noch in einer Höhlenwohnung gelebt“, erzählt Pietro Moliterni. Der in Matera aufgewachsene und heute in Deutschland arbeitende Unternehmensberater erinnert sich noch daran, wie sein Opa sogar Wein in der Höhle produzierte.
Als ideale Reisezeit für Matera empfiehlt Pietro Ende Juni bis Anfang Juli - zur alljährlichen „Festa Madonna della Bruna“. Der Höhepunkt dieses Patronatsfestes ist immer der 2. Juli: Unter krachendem Feuerwerk ziehen acht Maultiere, eskortiert von Männern in Rittertracht, den „Carro trionfale“, einen Festwagen mit der Madonna oben drauf, durch die Sassi und Materas Straßen. Am Ende dieses Korsos stürmen vor allem junge Männer das Gefährt auf der Piazza Veneto und plündern die Aufbauten aus Pappmaschee, reißen Stücke vom Jesusbild, Engelsköpfe und -flügel sowie Teile der großen Kuppel herunter. „Jede Familie in Matera ist scharf darauf, ein solches Teil vom Carro zu bekommen“, erzählt Pietro Moliterni, „meine Eltern haben auch welche zu Hause, sie werden als moderne Reliquien so aufgehängt, dass sie Besuchern gleich ins Auge fallen.“
Im Juli 2019 geschieht das zum 630. Mal und wird ein Höhepunkt im Programm des Kulturhauptstadtjahres sein. Eröffnet wird es am 19. Januar 2019 um 19 Uhr, wenn exakt 2019 Musiker aus vielen Teilen Italiens und ganz Europa als XXL-Marching-Band durch Matera ziehen und Stimmung machen. Bis dahin haben viele Einwohner die Zahl 19 sicher verinnerlicht, denn schon 2018 wurden sie nahezu an jedem 19. Tag eines Monats mit Konzerten, Theater- und Opern-Events darauf eingestimmt, ein Jahr Europas Kulturmetropole zu sein. An Straßenlaternen sind Banner für 2019 zu sehen. Das Logo darauf zeigt etwas unmotiviert zueinander stehende kleine und große, bunte Rechtecke: Sie sollen die Sassi und ihre Fenster symbolisieren. In Taxis, Cafés und Geschäften reden die Einheimischen immer öfter über das Kulturhauptstadtjahr – oft kontrovers.
Kulturhauptstadt-Befürworter erhoffen sich mehr Umsatz durch geschätzte 800.000 Besucher in 2019. Die Skeptiker fragen, wie die in normalen Jahren ohnehin schon enge, überfüllte Stadt diesen Ansturm bewältigen soll. Etwa 5000 Bürger haben sich bereiterklärt, eine Fahne mit dem Logo rauszuhängen – als Einladung an Besucher, sich doch mal die Stadt aus ihrer Perspektive anzuschauen. Die Besucher, so die Erwartung, werden dieses besondere Erlebnis weitererzählen, und so werde Matera als Kulturhauptstadt in anderen Ländern bekannter. Skeptiker glauben hingegen, der Effekt von 2019 werde ohnehin nur ein Strohfeuer sein und nutze allenfalls den Politikern, die jedoch die Alltagsprobleme der Menschen vernachlässigten.
Ein Park soll in die Felswüste
Thematisch will Matera 2019 einen Bogen spannen von den bis zu 10.000 Jahren alten „schwarzen Löchern“ (Höhlen) der Sassi bis zu denen im Weltall, die im städtischen Planetarium beobachtet werden. Erleben können Besucher diese Zeitreise etwa an Installationen in der ältesten Höhle „Grotta dei Pipistrelli“, in einem Mittelalter-Themenpark und einem Space Park. Dazu soll es Konzerte in einer byzantinischen Höhlenkirche geben und einen Skulpturenpark in einem Steinbruch. Insgesamt stehen 55 Millionen Euro für die Kulturangebote zur Verfügung.
Zusätzlich zu umfangreichen Kulturangeboten soll die Stadt an einigen Stellen gewaltig auf Vordermann gebracht werden – mit vier Millionen für die Infrastruktur: Die betongraue Steinwüste „Piazza della Visitazione“ mitsamt Parkplätzen und Busbahnhof etwa bekommt ein Facelifting und einen freundlichen Park, sodass hier niemand mehr auf bröckelnden Mauervorsprüngen auf seinen Bus warten soll. Allerdings sollen dafür auch 86 Bäume gefällt werden.
In der „Cava del Sole“, einem Tuffsteinbruch, entsteht eine Art Arena für Konzerte und Performances. Sie soll mit neuen Fußgängerzonen und Radwegen an die historische Innenstadt angebunden werden. Allerdings gibt es auch zur Aufhübschung der Stadt kritische Stimmen – über Kompetenz-Wirrwarr, die lästigen Baustellen und das dadurch verursachte Verkehrschaos sowie die Befürchtung, dass vieles nicht rechtzeitig fertig wird. Eine Stimmungslage, die jedoch typisch ist für die meisten Kulturhauptstädte der vergangenen Jahre, in denen oft kurz vor dem Start noch vieles nicht richtig fertig war.
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