Wer einen Schatz verstecken möchte, schnappt sich ein verborgenes Stückchen Erde. Er zeichnet den Weg dort hin auf eine Karte und markiert die Stellen, die die großen Kostbarkeiten versprechen, an abgelegeneren, nicht so einfach zu erreichenden Teilen der Welt mit großen Xen. Das Aostatal, die heute kleinste Region Italiens ganz im Norden des Landes, hat zwar inzwischen eine recht gute Anbindung an den Rest der Welt. Aus der Vogelperspektive gesehen ist das Tal allerdings eine imposante Sackgasse in den Westalpen. Hier wären auf einer Alpenschatzkarte besonders viele Xe verzeichnet. Einige Schönheiten zeigen sich auf den ersten Blick, das viel Wertvollere benötigt allerdings einen Persektivwechsel oder viel Geduld. Los geht eine alpine Schatzsuche mit überraschend vielen Höhepunkten, die man am besten mit Wanderschuhen entdeckt.
Auf engen Pfaden der Alta Via 1, dem Hochweg der Giganten, schraubt sich ein Pfad einige hundert Meter vom Ort Gressoney-Saint-Jean zum Rifugio Alpenzu (1788 Meter) hinauf. Eine der ältesten Walser-Siedlungen besteht aus romantischen kleinen Holzhütten mit Schieferdächern, so eng aneinander gebaut, dass sich die Giebel beinahe küssen. In einer Hütte können Gäste von Juni bis September übernachten und sicher sein, dass auch hier oben eine Espressomaschine röchelt. Der Blick aus dem Tal zum Refugio hinauf gleicht der Miniaturlandschaft in einer Schneekugel mit einem in Nebel gehüllten Bergdorf, das auf ein Plateau gebaut wurde. Danach fallen die Felswände steil ab.
Wandern im Aostatal ist keine monatelange Suche nach nur einem großen Schatz. Machen sich Bergsteiger auf den Weg zu den Gipfeln, wird das Wandern vielmehr ein stetes Entdecken diverser Kostbarkeiten: Schutzhütten, Alpensteinböcke, Gletscher, die Sabots, das sind die traditionellen Holzschuhe aus Kiefernholz, die noch immer in den Dörfern geschnitzt und geschliffen werden. Wandern im Aostatal: Dafür nimmt auch der schnellste Skifahrer der Welt einmal das Tempo heraus, um Touristen nach oben zu führen. Simone Origone zeigt auf der Alta Via 1 zum Colle Pinter, einem Pass auf fast 2800 Metern Höhe, wie die Walser hier einst ihre Hausungen in Stein geschlagen haben oder junge Leute heute versuchen, wie ihre Vorfahren Gemüse anzubauen. Er zeigt den Gästen seine Heimat und führt sie vorbei an einer Hütte, auf dessen Stufen ein Alpensteinbock liegt, als wäre er ein Wachhund. Hinter ihm in der Ferne glänzt der schneebedeckte Liskamm (4527 Meter) in der Sonne
Die weißen Gipfel spiegeln sich im türkisen Bergsee
Noch eine Stunde bis zum Pass. Der Weg wird steiler, die Vegetation karger. Immer wieder scheint es, als weht ein kalter Windhauch vom Gletschermassiv Monte Rosa herüber. Neben Ruinen tauchen auch verlassene Steinhäuser auf, die einst in einen steinernen Bergvorsprung gebaut worden sind, hier oben, in einer Höhe von weit mehr als 2000 Metern. Das Wandern mit Rucksack strengt bereits an, welche Mühen hat es wohl gekostet, solch eine Hausung hier oben zu errichten? Zumindest uns Wanderer wird nach dem Aufstieg zum Pass der Blick ins Ayas-Tal belohnen, kündigt Simone Origone an.
Sollte jemals eine Alpenschatzkarte gezeichnet werden, wäre das Aostatal ein großes Tälergeflecht. Vom rund hundert Kilometer langen Haupttal zweigen einige größere und kleinere Seitentäler ab. Am besten orientiert man sich an der zentral gelegenen Hauptstadt Aosta. Benannt nach dem Kaiser Augustus wurde Aosta an einem strategischen Punkt gegründet. Im Norden liegt die Schweiz, im Westen Frankreich, im Süden und Osten das Piemont. Den Touristen zeigt sich Aosta heute noch als mittelalterliche Stadt. Aus dem Tal hinaus führen nach Westen nur lange Tunnel und kleinere Nebenstraßen. Nach Osten verläuft heute die Autobahn vorbei an der wiederaufgebauten und imposanten Festung „Forte di Bard“, die Napoleon zerstören ließ und die ebenfalls wirkt, als wachte sie über das Aostatal wie die höchsten Viertausender der Alpen. Um diesen Giganten näher zu kommen, gibt es Höhenwege wie die Alta Via Numero Uno.
Dort ist die Wandergruppe rund um Simone Origone am Pass angekommen und genießt an einem türkisfarbenen Bergsee den Blick auf die umliegenden Gipfel. Doch das soll noch nicht der Höhepunkt dieser Tour gewesen sein. Spielt das Wetter mit, spitzelt während des Abstiegs durch Geröllfelder und entlang kleiner Wasserfälle irgendwann der Monte Cervino entgegen. Hinter dem italienischen Namen versteckt sich ein weiterer besonderer Schatz dieser Region, das Matterhorn, ein Gigant, der 4478 Meter über Null liegt.
Und tatsächlich. Für wenige Sekunden zeigt sich eine schroffe Bergspitze in Grau und Weiß mit Fels und Schnee und nur ein paar Sekunden später ist das Spektakel schon wieder vorbei, Vorstellung beendet, Wolkenvorhang zu. Die markanteste Seite des Matterhorns sieht man nur aus der Schweiz. Die leichte Sichel ist von der italienischen Seite gesehen gestreckt und stumpfer. Nicht derselbe majestätische Anblick, aber dennoch besonders.
Im Aostatal werden alte Traditionen noch gepflegt
Im Aostatal gibt es alternativ noch ein paar andere berühmte Viertausender. Da wäre beispielsweise das Monte Rosa Massiv, oder Italiens höchster Berg, der Gran Paradiso der in einem riesigen Nationalpark liegt, in dem die Alpensteinböcke vor dem Aussterben bewahrt worden sind. Als westlicher Wächter wartet Richtung französische Grenze der Mont Blanc – mit 4810 Metern Europas zweithöchster Gipfel (nach dem Elbrus im Kaukasus), die Italiener nennen ihn Monte Bianco.
Das Aostatal ist nicht nur geprägt durch seine Gipfel. Alte Traditionen wie das Herstellen von Käse oder das Anfertigen der typischen Holzschuhe aus Kiefernholz, der Sabots, werden gepflegt. In einer Holzschuhwerkstatt in Antagnod im Ayas-Tal etwa. Jung und Alt bewahren sich hier ihr kulturelles Erbe. Vor gut hundert Jahren, so erzählt Michel Becquet in seiner Werkstatt, besaßen die Menschen zwei Paar: eines für Sonntag und ein anderes für den Rest der Woche. Heute ist deren Anblick seltener geworden. Wenn sie die Schuhe auch nicht an den Füßen tragen, so doch zumindest auf der Haut, wie ein junger Wirt im Restaurant „La Meridiana“ in Mandriou, der sich ein Paar auf den rechten Arm hat tätowieren lassen. Viele junge Leute hier sind sehr stolz auf ihre Wurzeln.
So kommt es auch nicht von ungefähr, dass Mathieu Champretavy das Netzwerk „Tascapan“ gegründet hat, in dem viele regionale Lebensmittelproduzenten ihre Produkte anbieten, sei es nun Käse, Kartoffeln oder Apfelsaft. Die Geschichte der dazugehörigen Landwirtschaft im Aostatal lässt sich im Maison Bruil d’Introd erforschen. Tascapan ist aber mehr als nur eine Erzeugergemeinschaft. Das Projekt schützt sowohl das kulinarische als auch das kulturelle Erbe.
Der König liebte Steinböcke als Jagdtrophäen
Der Nationalpark Gran Paradiso hält ebenfalls diverse Schätze bereit, selbst wenn man sich gegen eine Gipfelbesteigung und für eine etwas gemütlichere Tour entscheidet. Etwa für den Spaziergang von Rhêmes-Notre-Dame zum Lago Pellaud. Entlang eines Bergbachs wandert man hier Gipfeln entgegen wie dem Granta Parey (3387 Meter) mit seiner steilen Felswand und dem Grand Combin (4314 Meter) im Rücken, den man auch beim Stadtbummel durch Aosta immer wieder sieht. Im Besucherzentrum in Rhêmes-Notre-Dame erfahren Bergliebhaber die Geschichte der Alpensteinböcke und den Savoyerkönig, der eine Jagdlandschaft gestaltet hat, um die Steinböcke zu sichern.
Während sich die „Valdostani“, die Bewohner des Aostatals, sämtliche berühmte Gipfel mit Frankreich oder der Schweiz teilen müssen, gehört ihnen der Nationalpark und der Gran Paradiso allein. Er steht voll auf italienischem Terrain und ist mit 4061 Metern noch so ein Gigant, der über all die Schätze des Aostatals wacht.