Eigentlich will ich mich nur noch hinlegen. Irgendwo in den Staub. Oder auf einen Stein. Völlig egal. Hauptsache nicht mehr bewegen. Meine Beine sind so schwer, dass ich sie kaum anheben kann. Außerdem dröhnt mein Kopf, als hätte ich am Abend zuvor drei Flaschen Wein getrunken. Ich, ich bin Tom Fritzmeier, 36, und gerade auf dem Weg einen Weltrekord aufzustellen. Auf dem 5951 Meter hohen Vulkan Licancabur in Bolivien. Mit einem Stand-Up-Paddle-Board.
Klingt bescheuert? Ist es auch. Das Bescheuertste, das ich jemals getan habe. Zumindest denke ich das in diesem Moment, knapp 200 Höhenmeter unterhalb des Gipfels. Vielleicht sind es auch 300 Höhenmeter. Keine Ahnung. Gefühlt ist die Spitze des Vulkans seit drei Stunden keinen Zentimeter näher gekommen. Kurze Pause. Einatmen, tief Luft holen, ausatmen.
Hinter mir biegt meine Freundin Simone Bronnhuber, 31, um die Ecke. Ich weiß, dass sie mich gerade hasst. Hätte sie die Kraft, würde sie mich wahrscheinlich mit ihren Wanderstöcken aufspießen. Weil ich mir diesen Rekordversuch in den Kopf gesetzt habe – und ihre Beine jetzt genauso schwer sind wie meine, ihr Kopf noch schlimmer brummt als meiner.
Fast genau ein Jahr ist es her, dass die Idee entstanden ist. An einem November-Regen-Tag daheim auf der Couch in Aislingen (Landkreis Dillingen). Nicht weniger als die höchste SUP (Abkürzung für Stand-Up-Paddle)-Tour aller Zeiten haben wir uns ausgedacht. Auf dem höchsten Bergsee der Welt: der Ojos-del-Salado-Lagune in Chile. Auf 6370 Metern Höhe. Obwohl die Paddel-Einlage auf dem rund 400 Meter tiefer gelegenen Licancabur-See schon gereicht hätte, um einen Weltrekord zu schaffen. Wir wollten aber einen Rekord, den keiner mehr brechen kann. Der Licancabur-See sollte deshalb eigentlich nur eine "lockere" Aufwärmrunde sein.
Warm ist uns jetzt. Und zwar so richtig. Als wir um 2.30 Uhr morgens am Fuße des Licancaburs aufgebrochen sind, lag die Temperatur noch knapp unter dem Gefrierpunkt. Jetzt, knapp fünf Stunden später, brennt die Sonne erbarmungslos auf uns herunter. Die langen Unterhosen und sogar die Daunenjacken sind längst durchgeschwitzt. Eigentlich reicht’s. Aber so verlockend der kleine Felsvorsprung im Schatten auch aussieht – aufgeben und ablegen ist nicht drin. Wir wollen zum Gipfel. Wir wollen den Rekord. Kurze Pause. Einatmen, tief Luft holen, ausatmen.
Der Weg zum Rekord war lang. Nicht nur am Berg. Neun Monate haben wir die Reise intensiv geplant, hart dafür trainiert. Vier Wochen haben wir sogar in einem Höhenzelt im eigenen Schlafzimmer geschlafen. Als wir dann am 1. November tatsächlich in La Paz (Bolivien) aus dem Flugzeug gestiegen sind, hat es sich schon wie ein kleiner Sieg angefühlt. Endlich nicht mehr planen. Endlich machen.
Mit an Bo(a)rd ist auch Daniel Kania, 23. Ein Zwei-Minuten-Telefonat im April hat gereicht, um ihn von unserer Idee zu überzeugen. Daniel ist Fotograf und arbeitet bei einer Münchner Werbeagentur und begleitet uns von Tag eins an mit der Kamera. Hätte er damals gewusst, wie hart der Weg zum SUP-Gipfel ist… vielleicht hätte er etwas länger überlegt.
Nach über sechs Stunden und 1200 Höhenmetern ist es endlich vollbracht. Der Gipfel. Wir sind da, haben es geschafft – zumindest Daniel und Simone. Ich habe noch ein paar Meter vor mir. Der Krater-See liegt 50 Meter unterhalb des Gipfels. Runter ist kein Problem. Aber ich muss ja auch wieder hoch. Und davor muss ich das Board mit der Luftpumpe aufpumpen.
Zum Glück gibt’s ja noch Pika, 38, Papa von zwei kleinen Kindern. Eigentlich heißt er Jesus. So nennt ihn aber nur seine Mama, sagt er. Er ist unser Guide und während der ganzen Tour an unserer Seite. Ursprünglich war er mal Rettungssanitäter und Sport-Kletterer. Mittlerweile arbeitet er als professioneller Bergführer.
Er kennt die schönsten, höchsten und gefährlichsten Gipfel in ganz Südamerika – und darüber hinaus. Er weiß aber auch, wo es die billigste SIM-Karte fürs Handy gibt, wie man in freier Natur am unauffälligsten sein "großes Geschäft" erledigt, und dass zwei Bolivianos (umgerechnet 26 Cent) und eine Bonuskarte vom Supermarkt bei einer Polizeikontrolle auch mal den Führerschein ersetzen. Was Pika bis zu unserer Ankunft nicht wusste: Was ein SUP-Board ist. Im Gegensatz zu Deutschland, wo im Sommer auf beinahe jedem Tümpel gepaddelt wird, ist der Sport in Bolivien gänzlich unbekannt. Noch. Pika hat sich direkt in unser Board verliebt, am Ende wahrscheinlich mehr Stunden darauf verbracht als wir.
Und er wird auch künftig seine Runden in Bolivien drehen. Zum Abschied haben wir ihm unser aufblasbares Brett geschenkt. Am Licancabur bleibt er aber am Ufer, hilft nur beim Aufpumpen. Danke dafür.
"Ich kämpfe mit Freudentränen, mein Herz pocht noch schneller."Tom Fritzmeier
Dann geht’s für mich endlich aufs Wasser. Die schweren Beine sind plötzlich verschwunden. Die Kopfschmerzen auch. Die Erleichterung ist riesig. Ich kämpfe mit Freudentränen, mein Herz pocht noch schneller. Mir wird sogar ein wenig schlecht. Ich kann nichts sagen. Minutenlang stehe ich fast regungslos am Ufer. Den Klos in meinem Hals spüre ich noch heute, wenn ich an diesem Moment denke. Wir haben es tatsächlich geschafft, die höchste SUP-Tour der Welt vollbracht. Der Rekord gehört uns. Das Gefühl auf dem kristallklaren Wasser ist einmalig. Der Blick auf die umliegenden Kraterwände unbeschreiblich. Die bescheuerte Idee war doch nicht so bescheuert.
Und Pika? Der macht ein Schläfchen am Ufer. Kein Witz. Zu seiner Verteidigung: Während unserer vier Wochen in Bolivien und Chile ist der 38-Jährige rund um die Uhr für uns da, führt uns an Orte, die nur wenige Touristen zu sehen bekommen. Etwa einen kleinen Gletschersee auf rund 5000 Metern, der auf einer Seite von einer riesigen Eiswand umrahmt wird. Oder an eine Lagune im Sajama National Park, in der vorne Flamingos stehen, dahinter Lamas grasen und ein paar Meter weiter eine Gruppe Alpakas vorbeimarschiert. Ein Maler hätte die Szenerie nicht schöner erschaffen können.
Pika löst auch jedes Problem. Egal wie groß oder klein es ist. Als Daniel krank wird, besorgt er ihm alle notwendigen Medikamente. Er massiert Simones eiskalte Zehen als wir auf dem 6016 hohen Meter Berg San Francisco stehen und hat sogar eine Schiene parat als ich mir beim Sprung durch einen Geysir in Sol de Manana den Knöchel verknackse. "No Drama Lama", sagt er immer wenn etwas schief geht und lächelt entspannt.
Nur einer sorgt bei Pika regelmäßig für mittelgroße Schweißausbrüche: Bobby. So haben wir den grau-silber-farbenen Bus, in dem wir 3000 Kilometer durch Südamerika tuckern, getauft. Ein Neunsitzer, russisches Modell – und erst ein Jahr alt. Auch wenn er anders aussieht. Bobby, so sagt man uns beim Start in La Paz, ist eigentlich für Fahrten in Sibirien entwickelt worden und deshalb nicht kaputt zu kriegen.
Nun ja. Mal davon abgesehen, dass wir plötzlich mitten im Nirgendwo Benzin verlieren, wir bei unserer Fahrt quer durch die berühmte Salzwüste, die Salar de Uyuni, die Stoßstange inklusive Nummernschild verlieren und auf dem Weg zum Ollague, einem 5868 Meter hohen Vulkan am Rande der Chiguana-Wüste, der Kühler komplett überhitzt– ja, dann war unser Bobby wirklich zuverlässig.
Wir haben auf unserer Reise die schönsten Flecken in Bolivien und Chile gesehen, haben Alpakas, Lamas und Flamingos in freier Natur beobachtet, haben die bizarr schöne, karge, aber auch unglaublich bunte Landschaft Südamerikas erkundet und unser Stand-Up-Paddle-Board an Orten ins Wasser gelassen, wo noch nie jemand anderes gepaddelt ist. Wir haben drei 5000er und einen 6000er bezwungen und einen völlig bescheuerten, aber großartigen Rekord aufgestellt. Mehr geht eigentlich nicht.
Doch. Es geht mehr. Denn unseren Traum von der Paddel-Runde auf dem Ojos del Salado in Chile, dem höchsten Bergsee der Welt, haben wir nie aus den Augen verloren.
Fünf Tage verbringen wir in einer Blechhütte im Base-Camp Laguna Verde am Fuße des Berges, bereiten uns vor. Kein Strom, kein fließend Wasser, kein Bett – dafür aber mit ein paar Ratten, die jede Nacht eine Party feiern.
Und dann war er endlich da. Der Tag auf den wir so lange gewartet hatten. Und er verlief ganz anders als geplant. An keinem der Tage, die wir bis dahin in Südamerika verbracht hatten, hatte es auch nur einen Milliliter Niederschlag gegeben. Bis zum Abend vor dem geplanten Aufstieg. Da setzt plötzlich Schneefall ein. Aus dem Nichts. Erst ganz leicht, dann immer heftiger. Als wir um 1 Uhr nachts unseren Bus besteigen, der uns zum 1000 Meter höher gelegenen Startpunkt bringen soll, bedeckt eine 20 Zentimeter hohe Schneeschicht den Boden. Und je näher wir dem Berg kommen, desto höher wird die Schneedecke.
Immer wieder drehen die Reifen durch, immer wieder müssen wir aussteigen, den Bus anschieben. Auf über 5000 Höhenmetern einen russischen Zwei-Tonner durch eine Sand-Schnee-Mischung zu schieben, ist heftig. Die Luft ist dünn und jede Bewegung ist unglaublich anstrengend. Zudem ist es bereits Versuch zwei. Den ersten vor einigen Stunden hatten wir irgendwann abbrechen müssen. An exakt der gleichen Stelle, an der wir jetzt wieder stehen.
Diesmal ist Umdrehen keine Option. Die Vorhersagen für die nächsten Tage sind schlimmer. 50 Zentimeter Neuschnee sind für Höhen ab 6000 Meter angesagt. Dazu Temperaturen von bis zu minus 18 Grad. Und das Ziel ist zum Greifen nah. 1,8 Kilometer sind es noch bis zum Startpunkt. Klar, wir könnten auch gehen, das Auto einfach stehen lassen. Aber dann würden wir zu lange bis zum See brauchen, spätestens auf dem Rückweg mitten in den Schneesturm geraten. Also weiter schieben, mit aller Kraft.
"Game over, Buddy."Guide Pika
Plötzlich sehen wir von Weitem andere Autos. Sie kommen vom letzten Base-Camp vor dem Aufstieg am Berg herunter. Die vier Jeeps, in denen chilenische Bergführer mit ihren Gruppen sitzen, rasen an uns vorbei. Ja nicht stehen bleiben, ja nicht stecken bleiben. So oder so ähnlich rufen die Männer es aus den offenen Autoscheiben unserem Guide Pika zu. Und ein paar Worte mehr auf Spanisch, die wir nicht verstehen. Pika schon. Er zieht seine Wollmütze vom Kopf, geht direkt auf mich zu, legt seine Hand auf meine Schulter und sagt drei Worte, die sich in mein Hirn eingebrannt haben: "Game over, Buddy." Das Spiel ist aus. Die Gruppe vor uns sei ein paar hundert Meter weiter oben bereits hüfthoch im Schnee gestanden und habe abbrechen müssen. "Zu gefährlich", sagt Pika und zeigt auf die dicke, schwarze Wolke, die sich hinter uns aufgebaut hat.
Es ist schwierig, die Gefühle, die in diesem Moment über uns hereingeprasselt sind, in Worte zu fassen. Diese geballte, ungebremste Mischung aus Enttäuschung, Wut und Erschöpfung hat uns an diesem Tag aus dem Nichts getroffen. Von einer Sekunde auf die andere war der Traum geplatzt. Einfach so. Mutter Natur hat uns einen Strich durch die Rechnung gemacht.
Natürlich war uns klar, dass wir Wetterglück brauchen. Aber eher dafür, dass der See auf 6370 Meter nicht zugefroren ist. Bis zu minus 25 Grad kann es dort locker mal haben. Aber auch dieses Szenario haben wir durchgespielt. Und unser Bergführer hat zwei Tage vor unserem Rekordversuch die aktuellste Wettermeldung per Satellitentelefon eingeholt: klarer Himmel, Sonne den ganzen Tag. Und dann fällt Schnee.
"Mir laufen Tränen übers Gesicht."Tom Fritzmeier
Wir waren auf diesen Moment vorbereitet. Dachten wir. Aber dann tat es einfach nur weh. Zum ersten Mal seit einer gefühlten Ewigkeit laufen mir Tränen übers Gesicht. Simone und Daniel liegen sich in den Armen, schluchzen. Unsere Reise, die vor einem Jahr auf der Couch in Aislingen begonnen hat, ist vorbei. Im Schlamm. 1,8 Kilometer vor dem Ziel.
Umso schöner ist der Moment, als wir Zuhause ankommen. Schon von Weitem können wir im Treppenaufgang zu unserer Wohnung die Herz-Luftballone erkennen. Unsere Namen stehen darauf und: "Weltrekordinhaber". Stimmt. Sind wir. Eigentlich immer noch unfassbar. Die Ballons lassen wir so lange wie möglich hängen. Wir wollen noch nicht loslassen. Zu schön sind die Erinnerungen an unsere Reise, die uns neben einem Titel vor allem unvergessliche Momente beschert hat.
Der Berg ruft – noch immer. Oder schon wieder? Wir hören den Ojos del Salado ganz laut. Pika und Bobby warten. Ende Januar könnte sich erneut ein Zeitfenster auftun, in dem die Chance, den Berg mit wenig Schnee und den See ohne Eis zu erwischen, groß sein soll. Bis dahin heißt es aber: Kräfte sammeln – und sich einfach mal hinlegen.
Wir berichteten vier Wochen lang im Live-Blog über das Abenteuer von Simone Bronnhuber und Tom Fritzmeier. Hier können Sie das Abenteuer Tag für Tag nachlesen.