Ali* erklärt die entscheidendste aller Fragen so: „Du hast verschiedene Tickets im Leben. Dein Name, deine Beziehungen, deine Arbeit usw. Stell dir vor, irgendjemand nimmt dir ein Ticket nach dem anderen weg. Erst deinen Job, dann deine Freunde, wenn du schon gar nichts mehr hast, löscht er auch noch deinen Namen aus. Was bleibt?“
Reisen ist ein Selbstfindungstrip. Aber selten geht es irgendwo mystischer und enger zu als im Auto, in das mich Ali, der Fragesteller, verfrachtet hat. Sechs Leute auf fünf Sitzen fahren durch wüstenhafte Leere in die Dämmerung irgendwo hinter Isfahan. Ali und seine Freunde haben mich zu einem Sufi-Ritual eingeladen. Ein paar Stunden vorher habe ich die Gruppe vor der Shah-Moschee in Isfahan getroffen, am südlichen Ende des Naqsch-e Dschahan, eines Platzes, dessen Dimensionen Tage danach noch surreal auf mich wirken. Ali und seine Frau stehen etwas abseits der drei Musiker mit den langen Haaren, obwohl beide die Musiker kennen. Ali kommt gerade von der Arbeit. Die anderen drei spielen wie das Abbild eines Wiedererwachens der Flower-Power-Bewegung mit Gitarre und Kalimba zum Tanz auf. Auch für mich ist es ein seltsamer Anblick.
In den meisten Regionen im Iran, in denen ich bisher gewesen bin, dominiert nicht nur im gerade zu Ende gegangenen Jahr die Farbe Schwarz. Straßenmusik ist verboten. Legt es ein Polizist darauf an, drohen den Musikern drakonische Strafen. Noch unbeliebter ist der Sufismus, seit Ayatollah Khomeini nach der Revolution im Jahr 1979 den Gottesstaat ausgerufen hat. Hin und wieder verschwinden Anhänger der kultischen Bewegung, sagt Ali. In etwa so, wie mir Ali den Kern des islamischen Sufismus beschreibt. Nur wer sich im Nichts auflöst, kann zur universalen Erkenntnis gelangen.
2018 hatten iranische Gerichte den Sufi Mohammad Salas schuldig gesprochen und trotz Protesten erhängt. Der Staat verfährt wohl am grausamsten mit den Bewegungen, die islamisch geprägt sind, aber ihre eigene Lebensweise abseits der Schia bevorzugen. Den schlimmsten Verfolgungen sind die Bahai ausgesetzt, berichtet mir eine Freundin.
Wir müssen vorsichtig sein. Deshalb fahren wir auch mit dem Auto in ein Dorf, das in der Dunkelheit wie ein Geisterort wirkt. Über die toten Gemäuer einer Karawanserei ziehen die Schatten der Wolken im Licht des Vollmonds hinweg, und am Ende einer versteckten Gasse öffnet uns ein alter Mann das Tor zu seinem Granatapfelgarten am Rande des ehemaligen Bauernhofs. Nach wenigen Minuten sind wir zu zwölft. Unter den Teilnehmern sind die französischen Dokumentarfilmer Priscilla Telmon und Vincent Moon, die auf der ganzen Welt nach Riten suchen, die transzendente Universen erschließen sollen – und zwei Gestalten, die den Abend meine Blicke auf sich ziehen werden.
Aus Bastian Sünkel wird Bastian Schweinsteiger
Eine der beiden stellt sich mir als „Fred“ vor, obwohl das nicht sein richtiger Name ist. Namen interessieren ihn wenig, ist ja nur ein Ticket. Mich nennt er abwechselnd Sebastian Koch und Bastian Schweinsteiger. Die Zeit für Sportberichterstattungen nimmt sich Fred offensichtlich neben seinem Leben als Sufi-Meister. Wenn er mich Sebastian Koch nennt, lacht er laut hinter einem weißen Rauschebart. Er sagt, er stamme aus einer berühmten Sufi-Familie im Norden des Iran. Den beeindruckenden Schrein seines Ur-ur-ur-(…)-Großvaters Safi ad-Din habe ich in meinen ersten Tagen im Iran, in der nördlichen Stadt Ardabil, besucht.
Neben Fred steht Bito. Bito ist auch ein Künstler- oder Mein-Name-ist-egal-Name. Als ich ihn erstmals in Isfahan sehe, denke ich, er sollte vorsichtig mit Drogen sein. Sein rechter Augapfel dreht sich nach oben, die Pupille verschwindet hinter dem Lid. Vom Bart tropfen die Reste eines Waffeleises, gleichzeitig raucht er, und auf seinem Rücken sitzt wie ein Schildkrötenpanzer das später wichtigste Gerät für das Sufi-Ritual – die Derwischtrommel, die mir Bito als „Dum“ vorstellt, mit dem Antlitz des Mystikers Shams e-Tabrizis auf der Membran.
Zu den Klängen der Dum und anderer Instrumente zitiert Fred über den gesamten Abend Rumi. Rumi gilt mit seiner Liebes-Mystik als einer der wichtigsten Denker der iranischen Strömungen des Sufismus. In den Gedichten, die ich von ihm gelesen habe, geht es um Frauen, Wein und Musik. Die wahre Bedeutungsebene verstecke sich aber dahinter, erklärt mir jene Freundin, die mir das Buch geschenkt hat. Diese Ebene ist mir bislang verschlossen geblieben.
Dann geht es los. Fred sitzt am Boden eines mit Teppichen ausgelegten Raumes, in dessen Ecke eine Gestalt mit schwarzem Bart gemalt ist, die mich stark an den Gitarristen erinnert, und eine Muttergottes, deren Anwesenheit mich überrascht. Sufismus gibt es schon länger als viele der heutigen Weltreligionen, aber die Nähe zum Islam ist unverkennbar. Der Sufi-Meister verschränkt seine Arme vor der Brust und hält mit den Handflächen seine Ohrmuscheln nach vorne, als würde er den vollen Empfang aktivieren. Bito, der Derwisch, tanzt sich schon einmal warm und treibt die Dum mit seinen Handflächen unter die Zimmerdecke. Dazu kommen zwei Musiker, die Zuschauer, das französische Filmteam, das mir mit der Kamera immer wieder den Zugang zum Raum versperrt.
In der heiligen Stadt Ghom geißeln sich die Menschen auf offener Straße
An manchen Tagen kommt mir der Iran so vor, wie ich mich in diesem Moment fühle: Eine Kultur, die mich einbinden will, sperrt mich gleichzeitig aus, weil es eine ungeheure Menge an Verständnisproblemen gibt. In der heiligen Stadt Ghom geißeln sich die Menschen auf offener Straße zum Fest am Ende der 40-tägigen Gedenkens an den Tod Imam Husseins, dem al-Arba’in-Fest. Tanzende Sufis werden verfolgt. In Shiras verkaufen Dealer Wein und Marihuana quasi auf offener Straße. In Mashhad erzählt mir mein Bekannter, dass bei zweimaligen Verstößen gegen das Alkoholgesetz sechs Monate Gefängnis und 80 Stockschläge drohen. Auf meiner Reise durch die Wüsten, die einst persischen Metropolen bis an die Straße von Hormus, sehe ich Menschen, die sich nach einem freien Leben sehnen, was die Regierung durch regelmäßige Machtdemonstrationen zu unterbinden versucht.
Im Auto hat Ali mir erklärt, dass es doch natürlich sei, sich zu drehen. Wie die Atome, wie die Erde, wie das Universum. Alles dreht sich im Kreis. Als Derwisch Bito seinen Drehtanz nach etwa 45 Minuten mit „Hay Allah!“-Rufen beendet, bleibt Ali auf dem Boden liegen. Er hat offensichtlich nicht nur ein Ticket nach dem anderen abgegeben, sondern sich dazu auch noch emotional entblößt. Erst liegt er schreiend, weinend, später lachend auf dem Teppichboden. Ich reise ohne Erleuchtung, aber mit dem Gefühl weiter, dass ich eine weitere Facette des Landes kennengelernt habe, das mir beinahe jeden Tag neue Rätsel aufgibt.
In meinen letzten Tagen im Iran treffe ich auf der Insel Qeshm im Persischen Golf einen jungen Mann namens Hussein. Er liebt es, über Politik zu diskutieren. Ein Satz von ihm bleibt mir im Gedächtnis. Ich frage ihn direkt, wie lange es dauert, bis die Bevölkerung aufbegehrt. Er sagt, er schätze etwa zehn Jahre. Warum? „Eine Generation macht keine zwei Revolutionen.“ Die Alten blicken resigniert auf die Revolution von 1979 zurück. Die Jungen sind zu wenige, um gegen Polizei und Militär aufzubegehren. Am nächsten Morgen streckt mir Hussein sein Handy entgegen. Die Regierung habe die Benzinpreise um bis zu 200 Prozent erhöht, sagt er. Die ersten Tankstellen und Ölspeicher brennen. In den Städten werden Proteste teils blutig niedergeschlagen. Noch Wochen nach diesem Tag senden mir meine Bekannten Videos, die Übergriffe während der Proteste zeigen. Ich verlasse den Iran und denke an die Sufis zurück, als mir schon die eisige Kälte Turkmenistans entgegenschlägt. Alles dreht sich.
*Alle Namen bis auf die Künstlernamen sind geändert.
Wer mehr lesen will, findet den Reiseblog von Bastian Sünkel unter www.globalmonkey.net