Es ist eine Entscheidung, auf die viele Alzheimer-Patienten in Deutschland gewartet haben: Zum ersten Mal hat die europäische Arzneimittel-Behörde EMA ein Medikament zur Zulassung empfohlen, mit dem Krankheitsprozesse zumindest verlangsamt werden können. Alle Arzneimittel, die bislang auf dem Markt sind, können nur Symptome behandeln, nicht aber die Ursache der Krankheit. „Das ist eine wegweisende Entscheidung“, sagt Anne Pfitzer-Bilsing, Leiterin der Abteilung Wissenschaft der gemeinnützigen Alzheimer Forschung Initiative. „Damit werden die Weichen für die Diagnostik und Behandlung der Alzheimer-Krankheit voraussichtlich grundlegend neu gestellt.“ Lecanemab, wie das Mittel heißt, bekämpft Ablagerungen im Gehirn. Allerdings hat die Therapie gleich zwei entscheidende Einschränkungen: Sie ist nur für einen kleinen Kreis von Menschen überhaupt von Nutzen – ist die Krankheit schon zu weit fortgeschritten, lassen sich die Schäden nicht mehr reparieren. Und die möglichen Nebenwirkungen sind schwerwiegend.
Auch deshalb ging der Zulassung ein längeres Ringen voraus: Im Juli hatte die EU-Arzneimittelbehörde noch entschieden, dass das Risiko des Medikaments höher zu bewerten sei als die erwartete positive Wirkung. Tatsächlich kann auch Lecanemab Alzheimer nicht heilen, sondern nur leicht abschwächen. Das japanische Unternehmen Eisai hatte dennoch eine zweite Prüfung beantragt, die nun positiv ausgefallen ist. Damit folgt Europa anderen Ländern: Zugelassen ist Lecanemab bereits in den USA, Großbritannien, Israel, Japan, China und Südkorea, Australien sprach sich dagegen aus.
Behandlung von Alzheimer-Patienten ist derzeit verbesserungswürdig
Experten wünschen sich jenseits der medizinischen Wirkung des Produktes einen anderen positiven Effekt: Dass die Behandlung von Alzheimer-Patienten in Deutschland sich verbessert. Rund eine Million Menschen sind von der Krankheit betroffen, doch ihre Betreuung ist schlecht, die meisten werden von ihren Hausärzten statt von Fachärzten behandelt. Der Einsatz von Lecanemab hingegen benötigt Expertenwissen, umfangreiche Tests müssen vorausgehen – die Hoffnung ist, dass so eine verbesserte medizinische Struktur für alle von Alzheimer Betroffenen entstehen könnte. Und auch das Medikament könnte weiterentwickelt werden. Ähnlich wie bei Krebsmedikamenten, die heute im Vergleich mit denen von vor 20 Jahren eine deutlich bessere Wirkung haben.
Die Therapie ist indes teuer und aufwändig. Lecanemab wird als intravenöse Infusion alle zwei Wochen verabreicht. Der Antikörper richtet sich gegen so genannte Amyloid-Ablagerungen im Gehirn. Haben die Amyloid-Plaques schon irreversible Schäden angerichtet, nützt ihre Entfernung nichts mehr. Die Behandlung muss also in einem frühen Stadium erfolgen – nicht immer wird Alzheimer aber auch entsprechend rechtzeitig diagnostiziert. Bei der EMA-Empfehlung gibt es zudem noch eine weitere Einschränkung: Das Mittel solle nur für Alzheimer-Patienten verwendet werden, die eine bestimmten Form der Krankheit haben, die genetisch nachgewiesen werden muss. Bei ihnen ist die Wahrscheinlichkeit für bestimmte schwerwiegende Nebenwirkungen - Schwellungen und Blutungen im Gehirn - geringer.
Zwar blieben die Schwellungen und Blutungen bei vielen Patienten ohne Folgen und wurden nur im MRT nachgewiesen. Doch grundsätzlich gelten Mikroblutungen als Risikofaktor für größere, potenziell lebensbedrohliche Hirnblutungen. Auch deshalb muss die Behandlung engmaschig überwacht werden. „Es muss immer genau abgewogen werden, wer mit Lecanemab behandelt werden kann“, sagt Pfitzer-Bilsing. „Auch Erkrankte, die Blutverdünner nehmen, haben ein erhöhtes Risiko auf Nebenwirkungen.“ Trotzdem sei es gut, dass Alzheimer-Erkrankte bald eine neue Therapieoption hätten und zusammen mit behandelnden Ärzten entscheiden könnten, ob sie die Behandlung in Anspruch nehmen möchten.
Bei Frauen wirkt Lecanemab deutlich schlechter
Noch ein weiteres Manko ist aufgetreten. „Unklar ist bisher, ob und wie sehr Frauen von einer Behandlung profitieren“, sagt die Alzheimer-Expertin. Untersuchungen würden einen großen Unterschied bei der Wirksamkeit zwischen Frauen und Männern zeigen. „Während der Krankheitsverlauf bei Männern durchschnittlich um 43 Prozent verlangsamt werden konnte, waren es bei Frauen nur 12 Prozent“, sagt Pfitzer-Bilsing. In weiteren Studien müssten deshalb dringend erforscht werden, ob dieser Unterschied Bestand habe und was die Gründe dafür seien. Rund zwei Drittel aller Menschen mit Alzheimer sind Frauen.
Wann das Mittel tatsächlich auf den Markt kommt, ist unklar, angepeilt wird das Frühjahr 2025. Die Zulassung durch die EU-Kommission steht noch aus, zudem ist der Hersteller verpflichtet worden, ausführliche Handreichungen für Ärzte auszuarbeiten. (mit dpa)
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