Sehr geehrter Prof. Brenner, Sie forschen seit Jahren am Deutschen Krebsforschungszentrum in Heidelberg zum Thema Vitamin D. Blickt man in die vergangenen Jahre und Jahrzehnte, dann kann man fast den Eindruck gewinnen, als gäbe es bei Vitamin D eine Art Glaubenskampf. Einige halten Vitamin D für sehr wichtig und sehen große Teile der Bevölkerung mangelversorgt. Andere befürchten, dass sich Menschen per Vitamin-D-Substitution überdosieren. Wer hat nun recht?
HERMANN BRENNER: Natürlich kann man alles überdosieren, selbst Vitamin D, auch wenn das Risiko der Überdosierung für Vitamin D viel geringer ist als für viele andere Substanzen und Medikamente. Dass Vitamin D wichtig ist, werden aber selbst die größten Skeptiker hoffentlich nicht bestreiten. Jedenfalls hoffe ich sehr, dass sie zumindest ihren Säuglingen und Kindern regelmäßig die empfohlenen Dosen von Vitamin D geben, um ihnen das Schicksal der früher in Deutschland und vielen anderen Ländern sehr weit verbreiteten Knochenerkrankung Rachitis zu ersparen.
Wie würden Sie einem medizinischen Laien die Funktion von Vitamin D erklären?
BRENNER: Vitamin D ist an zahlreichen Stoffwechselvorgängen, der Steuerung einer Vielzahl von Genen und der Bildung von Proteinen maßgeblich beteiligt. Eine besonders große Rolle spielt es für den Knochenstoffwechsel.
Wie kann ich meinen Vitamin-D-Wert bestimmen lassen? Kostet mich das extra? Ist das überhaupt nötig?
BRENNER: Der Vitamin-D-Status kann mit einem einfachen Bluttest bestimmt werden, dessen Kosten in der Regel allerdings nur in bestimmten begründeten Fällen von den Krankenkassen übernommen werden.
Es gibt ja Grenzwerte fürs Vitamin D. Wo liegen die? Sind sie aus Ihrer Sicht richtig? Wer legt sie überhaupt fest?
BRENNER: Der wichtigste Marker für den Vitamin-D-Status ist die Konzentration des 25-Hydroxy-Vitamin D im Blut. Nach der international am häufigsten genutzten Klassifikation des US-amerikanischen Institute of Medicine (IOM) gelten Werte unter 20 Nanogramm pro Milliliter (=50 Nanomol pro Liter) als unzureichend und unter zwölf Nanogramm pro Milliliter (=30 Nanomol pro Liter) sogar als definitiv mangelhaft.
Offenbar können ja nicht alle Menschen im gleichen Maße Vitamin D bilden oder aufnehmen. Menschen schwarzer Hautfarbe beispielsweise sind bei uns angeblich völlig unterversorgt, weil sie bei dem geringeren Sonnenschein in unseren Breiten nicht genügend Vitamin D ausbilden können. Stimmt das?
BRENNER: Ja, für dunkelhäutige Menschen ist die Eigenproduktion von Vitamin D in der Haut in unseren Breiten zumeist nicht ausreichend.
Wie ist es mit älteren Menschen?
BRENNER: Auch ältere Menschen sind häufiger mit Vitamin D unterversorgt, da die Haut im höheren Alter Vitamin D weniger gut selbst produzieren kann.
Was würden Sie empfehlen, wenn der Wert zu niedrig ist? Im Winter ins Solarium gehen?
BRENNER: Nein, das Solarium würde ich sicher nicht empfehlen. Im Sommer können die meisten Menschen in Deutschland mit Hilfe der Sonne selbst genug Vitamin D in der Haut produzieren. Dazu braucht und sollte man nicht stundenlang in der Sonne liegen. Sich mehrmals pro Woche möglichst zwischen 11 und 15 Uhr circa 10 bis 15 Minuten im Freien bewegen, ohne Gesicht, Arme und Hände zu bedecken oder mit Sonnenschutzcreme an der Vitamin-D-Produktion zu hindern, ist das viel bessere Rezept. Im Winter reicht das in unseren Breiten allerdings nicht. Dann würde ich bei einem zu niedrigen Wert die Vitamin-D-Einnahme empfehlen.
Was passiert, wenn man einen zu hohen Wert aufweist?
BRENNER: Eine übermäßig hohe Einnahme von Vitamin D kann zu erhöhten Kalzium-Spiegeln im Blut führen.
Vitamin D soll neueren Erkenntnissen zufolge gegen Krebs helfen. Stimmt das? Welche Krebsarten sind hier gemeint?
BRENNER: In den großen klinischen Studien führte die Vitamin-D-Einnahme zwar nicht zum selteneren Auftreten von Krebs. Nach den neuesten Meta-Analysen kann eine regelmäßige Vitamin-D-Einnahme aber die Sterberate an Krebs insgesamt (das heißt, für alle Krebsarten zusammen) signifikant um mehr als zehn Prozent senken. Besonders ermutigende Ergebnisse wurden für Darmkrebs gefunden. Patienten, die nach einer Darmkrebs-Diagnose Vitamin D einnahmen, hatten deutlich verbesserte Überlebensraten.
Gegen was hilft Vitamin D noch?
BRENNER: Zuallererst natürlich einmal gegen Rachitis, die in Deutschland früher weit verbreitet war, durch die regelmäßige Gabe von Vitamin D bei Säuglingen und Kindern aber erfreulicher Weise viel seltener geworden ist. Aber insbesondere auch bei älteren Menschen beugt Vitamin D Knochenerkrankungen wie der Osteoporose vor. Daneben verringert es die Infektanfälligkeit und stärkt die Muskelkraft. Nach neueren Untersuchungen schützt Vitamin D auch vor Multipler Sklerose. Für zahlreiche andere Erkrankungen sind positive Effekte einer Vitamin-D-Einnahme bei Menschen mit zu niedrigen Vitamin-D-Spiegeln wahrscheinlich.
Während der Pandemie gab es zudem Hinweise, dass Vitamin D auch gegen Covid hilft. Was können Sie dazu sagen?
BRENNER: Ja, das ist richtig. Ganz sicher wissen wir auch, dass viele schwer kranke Covidpatienten einen ausgeprägten Vitamin-D-Mangel hatten.
Welche wichtigen Forschungsarbeiten in Bezug auf Vitamin D stehen bei Ihnen in Heidelberg als nächste an?
BRENNER: Wir führen derzeit zum Beispiel eine klinische Studie durch, in der Darmkrebspatienten, anders als in den meisten bisherigen Studien, individuell angepasst genau die Menge an Vitamin D angeboten bekommen, die sie für eine optimale Versorgung benötigen. Wir erwarten, dass dies nicht nur zahlreiche Blutwerte, sondern auch die Lebensqualität und die Prognose der Patienten positiv beeinflusst. Erste Ergebnisse dazu werden wir in Kürze erhalten.
Resümierend: Ist Vitamin D also ein wichtiger Heilsbringer? Oder ist diese These zu stark?
BRENNER: Vitamin D ist für den menschlichen Körper ohne Frage unverzichtbar, aber sicher auch kein allumfassender Heilsbringer. Schon jetzt profitieren Millionen von Säuglingen und Kindern davon, durch die Vitamin-D-Gabe vor den Folgen eines ansonsten weit verbreiteten Vitamin-D-Mangels geschützt zu werden. Auch im späteren Leben sollten wir einen Vitamin-D-Mangel nicht einfach hinnehmen.
Zur Person
Professor Hermann Brenner, 65, leitet die Abteilung Klinische Epidemiologie und Alternsforschung am Deutschen Krebsforschungszentrum in Heidelberg. Er erforscht auch seit vielen Jahren die Bedeutung des Vitamin D für den Menschen.