Plötzlich hört man sie wieder, die dänische Glücksformel: Hygge. Eigentlich schien der freundlich helle Trend aus dem Norden für das behagliche Zuhause fast schon wieder durch zu sein, doch seit Corona hat das Wohnen für Millionen Menschen eine noch größere Bedeutung bekommen. Lockdown, Homeoffice, eingeschränkte Kontaktmöglichkeiten: Viele verbringen in diesem Jahr viel mehr Zeit in den eigenen vier Wänden und sehen oft auch ihre Einrichtung mit anderen Augen. Doch es sich in der kalten Jahreszeit gemütlich zu machen, wird noch wichtiger für das Seelenheil.
"Das Wort Hygge kommt ursprünglich aus Norwegen und bedeutet in etwa Wohlbefinden", erklärt die Buchautorin und Wohnstylistin Nicole Zweig. "In Dänemark kam es Anfang des 19. Jahrhunderts in den Sprachgebrauch und ist heute zu dem Lebensgefühl der Dänen geworden. Es bedeutet sehr viel auf einmal, aber die Essenz von Hygge ist ganz einfach: glücklich sein." Die Münchnerin setzt in ihrem Buch "Mach’s Dir Hygge" deshalb nicht nur auf Wohneinrichtung und Design, sondern auch auf Back- und Kochrezepte. Vor allem die Herbstzeit sei typische Hygge-Zeit.
Wohnjournalistin Marion Hellweg betrachtet den dänischen Designstil als ideale Basis, um ihn mit individuellen Vorlieben zu kombinieren. "Schließlich ist Einrichten ein Prozess, der nie stillsteht", betont sie. "Unser Wohnstil verändert sich im Laufe des Lebens genauso wie unser Modegeschmack. Gerade das macht ja auch ein Hygge-Zuhause aus, dass alte Wohn-Lieblinge mit neuen Styles kombiniert werden und so eine Atmosphäre entsteht, die uns schlichtweg guttut."
Die Deutschen lieben den skandinavischen Stil
Ob dänisches "Hygge" oder der nicht weit entfernte schwedische Trend "Lagom", der mit "angenehm passend" übersetzt werden kann – beides steht für eine Entwicklung, die den deutschen Einrichtungsstil schon seit vielen Jahren prägt. Skandinavisches Design beeinflusst wie keine andere Stilrichtung den deutschen Möbelmarkt und damit zahllose Wohnungen der Republik. Skandinavier haben hier längst die italienischen Designer verdrängt. Woher kommt die Vorliebe der Deutschen für den geradlinigen Stil aus dem Norden?
Kaum jemand beschäftigt sich mit Wohntrends so intensiv wie Gabriela Kaiser aus Landsberg. Die frühere Designerin berät und inspiriert mit ihrer Trendagentur zahlreiche Hersteller und Firmen. "Das skandinavische Design war uns schon immer sehr nahe, weil es auf der einen Seite einen minimalistischen Kerngedanken hat, aber zugleich viel mit Holz arbeitet", sagt sie. "Wir kommen in Deutschland beim Design auf der einen Seite aus der Bauhaus-Ära, die sehr funktional, aber auch unterkühlt war. Und auf der anderen Seite war lange der alpenländische Landhausstil bestimmend." Doch von beiden wendeten sich die Deutschen immer mehr ab.
"Den alpinen österreichischen Landhausstil mit geschnitzten Ornamenten empfanden viele Menschen irgendwann zu unmodern und zu traditionell", sagt Kaiser. "In den Achtzigerjahren stellte man dann ein schwarzes Ledersofa und einen Glastisch auf den gefliesten Boden, aber so lebt man heute nicht mehr. Das verbinden wir überhaupt nicht mehr mit Gemütlichkeit."
Dennoch beeinflussen beide Extreme aus heimeligem Holz und kühlem Minimalismus immer noch die deutsche Wohnkultur. "Auf einmal haben diese beiden Strömungen zusammengefunden. Denn der skandinavische Stil ist auf seine Weise im Prinzip eine Symbiose aus diesen beiden Richtungen, weshalb wir ihn in Deutschland als modernes Wohnen verstehen."
Dazu kommt die geografische Nähe: Immer mehr skandinavische Hersteller dominieren die deutschen Messen, sind im Handel verfügbar und inspirieren längst die deutschen Hersteller. "Die Skandinavier setzen schon lange auf Reduktion, arbeiten mit Schwarz-Weiß-Kontrasten, Glas und kühlen Materialien. Aber sie bringen eben den Holzfaktor mit hinein, der viel vom gemütlichen Hygge-Faktor ausmacht."
Expertin rät zu Wohnungseinrichtung nach den eigenen Bedürfnissen
Zugleich habe sich darum herum auch grundsätzlich der Einrichtungstrend gewandelt: "Früher hat man fast eins zu eins eine Katalogseite als Einrichtung umgesetzt und konnte sich sicher sein, dass alles zusammenpasst", erklärt Kaiser. Man habe damals auf Repräsentanz und die Stimmigkeit großen Wert gelegt. "Heutzutage geht es aber gar nicht mehr darum, dass alles zusammenpassen muss, sondern dass man seinen individuellen Stil lebt", betont die Trendexpertin.
"Das große Leitthema in unserer Zeit der Selbstverwirklichung ist deshalb ein ganz persönlicher individueller Einrichtungs-Mix." Und der muss zwangsläufig nicht anderen gefallen, sondern vor allem einem selbst. Zumal sich die Ansprüche an Ästhetik längst mit gewandelt haben. "Früher ging es darum, möglichst akkurat zu sein. Heute will man bewusst das Handwerkliche, das Unperfekte sehen." Das geht inzwischen so weit, dass selbst Massenhersteller bewusst inakkurate "Fehler" beispielsweise bei Keramik und Geschirr einbauen: Selbst künstliche Möbelbeschichtungen imitieren sägeraue Holzoberflächen.
Insofern herrscht – erlaubt ist, was gefällt – größere Freiheit denn je, sich das Zuhause besonders nach den Erfahrungen der Corona-Zeit noch schöner und gemütlicher zu machen. Gerade als Trendexpertin empfiehlt Gabriela Kaiser aber, dabei keinesfalls blind aktuellen Trends zu folgen. "Die Frage, was man als gemütlich empfindet, ist von Mensch zu Mensch verschieden", betont sie. "Es gibt Menschen, die brauchen eher viel und Dekoratives, damit es gemütlich ist."
Dann kämen viele Bilder an die Wände und Vasen auf die Tische. Je mehr, desto gemütlicher. "Und dann gibt es die Menschen, die es lieber spartanischer mögen. Denen reicht als dekoratives Element ein Stück Teppich auf den Holzboden." Diese Gruppe empfindet dafür besonders Materialien und Oberflächen als gemütlich. "Das sieht man auch daran, dass sich in den letzten Jahren der Anteil an Holz in der Einrichtung wieder deutlich erhöht hat", berichtet Kaiser. "Die Couch oder ein Sessel haben auf einmal sichtbare Holzfüße und Holzarmlehnen, die wir lange Zeit nicht gesehen haben."
Neue Kissen können das Bedürfnis nach etwas Veränderung befriedigen
Allerdings wechseln die Menschen selten ihre Möbel nach der Mode. "Je älter man ist, desto weniger sucht man nach Neuem, sondern möchte gar nicht mehr die große Veränderung. Das ist im Menschen über die Hormone angelegt." Und dennoch sehne sich jeder Mensch insgeheim nach ein bisschen Veränderung, auch wenn er sie mit zunehmendem Alter mehr im Kleinen suche. "Wenn man sich zum Beispiel neue, witzig spritzige, grüne Kissen kauft, hat man schnell eine andere Wohnoptik." Wände sind zwar große Flächen, doch man könne relativ einfach mit Farbe einen komplett neuen Akzent setzen.
Doch wie findet man seine passende Wandfarbe? Von der berühmten Aussage des Berliner Farbforschers Axel Venn, wonach weiße Wände "lebensfeindlich" seien, hält Trendexpertin Kaiser nichts: "Auch hier empfinden es die Menschen ganz unterschiedlich, wie sie sich wohlfühlen", sagte sie. "Ich zum Beispiel mag weiße Wände und finde lichtdurchflutete Räume gemütlich." Andere Menschen fühlten sich bei farbigen Wänden und mit Tapeten deutlich geborgener.
Aus diesem Grund sei es ganz wichtig, herauszufinden, welche Farbe zu einem passe: "Deshalb streichen viele Maler erst mal ein Stück und schauen, wie es wirkt. Privat ist es einfacher, wenn man in ein Möbelhaus geht und sich einmal auf eine dunkle Couch und einmal auf eine helle Couch setzt und schaut, was es mit einem macht." Denn Farben wirkten sich stark auf die Psyche aus: "Es ist deshalb wichtig, sich einfach einmal mit viel Fläche einer Farbe zu umgeben und zu spüren, wie es sich für einen anfühlt. Entspannt man sich oder spürt man eher eine bedrückende Stimmung", rät Kaiser.
Eine gelb gestrichene Wand kann neue Energie verleihen
Gerade in Corona-Zeiten könne man viel mit Farben erreichen, um sich wohlzufühlen. "Ist man eigentlich gern viel draußen in der Natur unterwegs, sollte man den Grünanteil erhöhen und sich mehr Pflanzen ins Haus holen. Das kann man auch mit einem Stück Tapete machen, da gibt es großartige naturalistische Motive." Wer im Homeoffice mit Antriebslosigkeit kämpft, könnte sich überlegen, die gegenüberliegende Wand im dunklen Gelb zu streichen: "Eine Farbe, die einen unheimlich energetisch aufladen kann", sagt Kaiser. Wem das zu viel ist, der kann zu Pastelltönen greifen.
"Wenn einem jetzt besonders das Emotionale fehlt, die sozialen Kontakte, wenn man sich einsam, allein zu Hause fühlt und einem die Decke auf den Kopf fällt, dann sollte man überlegen, ob man die Rosarotanteile erhöht", rät die Expertin. "Das ist eine sehr emotionale Farbe, die fast jeden sofort einbettet und abholt. Man bekommt sofort das Gefühl, dass einem emotional etwas gegeben wird." Schon eine rosa Kuscheldecke könne helfen. "Ein Stück Fläche sollte es schon sein", sagt Kaiser. "Man kann darüber nachdenken, eine Wand rosa zu streichen." Männer könnten zur Farbe Rosenquarz greifen, einem angegrauten Rosaton.
Auch Raumdüfte könnten das Wohlfühlklima steigern. "Wenn es gut gemachte, natürliche, hochwertige Düfte sind, kann das sehr helfen", sagt Kaiser. Synthetische Mittel hält sie dagegen für kontraproduktiv. "Düfte dringen tief in unser Gehirnzentrum ein und wirken noch extremer als Farben", sagt Kaiser. Hier müsse man besonders gründlich ausprobieren, welcher Duft wirklich individuell bei einem ein Wohlgefühl auslöse. Denn unterbewusst seien Düfte nicht nur mit guten, sondern auch mit schlechten Erinnerungen verknüpft.
"Jetzt sind wir in einer Phase, in der wir uns nicht aussuchen können, dass wie mehr zu Hause sind ", sagt Kaiser. "Deswegen ist es umso wichtiger, dass man sich ein Domizil erschafft, in dem man sich wirklich wohlfühlen kann und es lange drinnen aushält."
Nicole Zweig: "Mach’s Dir Hygge", 192 Seiten, 19,99 Euro, GU Verlag. Marion Hellweg: "Hygge! Das neue Wohnglück", 160 Seiten, 9,99 Euro, Deutsche Verlags-Anstalt
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