Wer ihre Wohnung betritt, sieht sich zuerst die Einrichtung ganz genau an. Wofür gibt sie ihr Geld aus? Geld, dass sie eigentlich nicht hat? Kein Teppich im Gang. Was kann sie sich leisten? Mehrere Türen. Wie viele Zimmer sind das? Im Wohnzimmer steht ein großer Flachbildfernseher. Wohl hoffentlich ein älteres Modell? Die Wasserflasche auf dem Esstisch ist vom Norma nebenan. Daneben liegen Kürbiskerne zum Knabbern und Kontoauszüge, Mietvertrag, Rentenbescheid. Franziska (Namen von der Redaktion geändert) ist es gewöhnt, ihre Daten vor den Mitarbeitern sämtlicher Behörden offenzulegen. Sie zeigt sie auch ihren Besuchern. „Wollen Sie in meinen Schrank sehen?“, fragt sie. Franziska sagt, sie hat kaum Sachen. Ihre kleine Familie lebt von dem Geld, das ihr der Staat gibt.
Wobei, Familie ist zu viel gesagt. Franziskas lebt noch mit ihrem Ex-Mann Bernd in einer Wohnung in Augsburg-Haunstetten. Damit sind sie für die Behörden eine Familie – beziehungsweise Bedarfsgemeinschaft. Wenn Bernd Hartz IV beantragt, muss er den Rentenbescheid seiner Ex-Frau mitschicken. In seinen Leistungen (610,07 Euro) sind 259,95 Euro enthalten, die er ihr für die Wohnung überweist. „Wenn meine Rente aufgestockt wird, bekommt er weniger, das will ich nicht“, sagt Franziska.
Jedes siebte Kind lebt von Hartz IV
Andreas Hirseland vom Institut für Arbeitsmarkt und Berufsforschung drückt dieses Prinzip so aus: „Mitgehangen, mitgefangen.“ So salopp wie er es formuliert sieht er es allerdings nicht. Er beschäftigt sich seit Jahren mit Erwerbslosigkeit und ist mit der Universität Augsburg und der Hochschule Fulda an einer Studie beteiligt, die den Alltag betroffener Familien und Paare erforscht. Dabei stoßen die Wissenschaftler auf Klischees, die sie nicht gerne hören, und Probleme, die alle Familienmitglieder betreffen. Auch für Kinder gilt: mitgehangen, mitgefangen.
Jedes siebte Kind lebt von Hartz IV. Wofür geben ihre Eltern ihr Geld aus? Geld, das sie eigentlich nicht haben? Gibt es solche Vorurteile zurecht? Kaufen sie sich vielleicht Zigaretten, statt ihren Kindern Wünsche zu erfüllen? „Ja, es gibt auch Eltern, die vom Geld für die Kinder Kippen holen. Es gibt aber auch einen großen Anteil an Erwachsenen, die sich selber zurücknehmen, um Kinderbedürfnisse zu erfüllen“, sagt Hirseland. Oft sind sie dem Vorwurf ausgesetzt, sie würden ihr Geld beispielsweise für Markenkleidung verschwenden. Die Wissenschaftler sehen das anders. Demnach wollen viele Eltern nicht, dass ihre Kinder ausgeschlossen werden. Dann kann es durchaus sinnvoll sein, in der Haushaltskasse auch Markenkleidung einzuplanen.
Außenwahrnehmung spielt oft eine große Rolle. Während Franziska offensiv vermitteln will, wie schäbig Wohnung und Kleiderschrank ausgestattet sind, wollen eben viele Eltern genau das nicht zeigen. Diese Entscheidungen hängen laut Professor Werner Schneider von der Universität Augsburg vom Selbstverständnis der Familie ab. Die einen sehen sich als arm, die anderen sehen sich als Kämpfer, wollen den Anschluss halten. Auch Bildung werde unterschiedlich gewichtet. Es gebe durchaus Familien, die darin ein wichtiges Mittel gegen Arbeitsplatzunsicherheit sehen.
Kinder bekommen zum Beispiel Unterstützung zum Schulanfang
Wenn es nach der zehnjährigen Lola ginge, könnte sie manchmal auf Schule verzichten. Hin und wieder schaltet sie im Unterricht auf stur. „Von den Lehrern musste ich mir einiges anhören“, erzählt ihre Mutter Katharina. Sie wollten, dass Lola auf eine Sonderschule geht. Mit ihr stimme etwas nicht. Die 40-Jährige war mit ihrer Tochter bei einem Psychologen. Der gab Entwarnung: IQ 140. Lola sei eben ein Freigeist, das System werde sie nicht ändern können. Katharina ist stolz. „Für Kinder, die aus anderen Verhältnissen kommen und ihren eigenen Kopf haben, lassen die sich gleich immer etwas einfallen.“ Klar sei Schule wichtig, aber man dürfe nicht alles mit sich machen lassen. Lässt sie mit sich auch nicht.
Als die 40-Jährige das erste Mal Hartz IV beantragte, hörte sie monatelang nichts vom Jobcenter. Ihr Mann hatte sie verlassen und zahlte keinen Unterhalt für die dreijährige Jenny. Lolas Vater zahlt auch nicht. Sie brauchte damals also schnell Geld. Katharina zog vors Sozialgericht. Drei Tage später bekam sie Arbeitslosengeld überwiesen: 800 Euro. Dazu 389 Euro Kindergeld und noch mal 400 Euro Unterhalt für ihre Töchter. Den Unterhalt für Jenny fordert der Staat vom Vater zurück. Für die Kinder gibt es weitere Unterstützungen, zum Beispiel aus dem Bildungspaket, das Ursula von der Leyen 2011 auf den Weg gebracht hat. Ob den Kindern mit diesen Maßnahmen wirklich geholfen ist, ist umstritten. Lola hat im August 70 Euro bekommen, um sich für den Schulanfang auszustatten. Katharina kommt mit dem Geld, das sie bekommt, gut zurecht, sagt sie. „Die Wohnung könnte größer sein.“ Sie und Jenny teilen sich ein Zimmer.
Katharina wünscht sich eine Wohnung auf dem Land
Wenn es draußen schön ist, haben die drei gleich viel mehr Platz. Vor ihrer 2,5-Zimmer-Wohnung in Augsburg-Lechhausen haben sie einen geteerten Hof. Katharina hat ihn heuer hübscher gemacht. Mit einem Freund zusammen hat sie ein paar Paletten geholt, gestapelt und weiß gestrichen. Nun legt sie noch ein paar geblümte Sitzkissen darauf und setzt sich zufrieden. Jenny gießt so lange die Blumen. Im September kommt die Dreijährige in den Kindergarten, dann möchte Katharina sich wieder eine Arbeit suchen. „Ich will unabhängig sein. Nicht ständig zu Terminen ins Jobcenter müssen, ständig Formulare ausfüllen. Die Bürokratie ist eine Katastrophe.“ Sie möchte das für sich selbst tun. „Was andere von mir denken, ist mir egal. Die Leute nennen mich oft eine Verrückte“, sagt sie und lacht. An diesem Abend will sie in einer bunt geblümten Schlaghose von Miss Sixty auf eine Motto-Party.
Ein Freund der Familie kommt in den Hof. Katharina drückt ihm 50 Euro und einen Einkaufszettel in die Hand. Er hat ein Auto und hilft ihr deshalb beim Einkaufen. „Bei solchen Dingen wie Autos muss man als Hartz-IV-Empfänger Abstriche machen“, sagt die 40-Jährige. Vielleicht trifft er unterwegs Lola, die ist vorher losgegangen, um Kartoffeln zu holen. Irgendwann, sagt Katharina, will sie auf dem Land leben. Da bekommt sie eine größere Wohnung für das gleiche Geld – im Moment bezahlt sie knapp 500 Euro warm.
Dass der Wohnort sehr entscheidend für das Wohlbefinden ist, ist eines der ersten Ergebnisse der Studie, die Ende 2016 veröffentlicht wird. 100 Personen aus sieben Orten in ganz Deutschland nahmen teil. Die Befragungen ergaben: „Die Vorstellung, es sei schwerer, als arme Familie in München zu leben, können wir nicht bestätigen“, erklärt Professor Schneider. „München zum Beispiel ist zwar eine Stadt, wo Armut öffentlich kaum vorkommt, aber sollte man es – wie auch immer – schaffen, dort zu leben, kann man die Infrastruktur nutzen.“ Zum Beispiel toll ausgebaute Spielplätze, die nicht mit Heroinspritzen verseucht seien. Außerdem greife auf dem Dorf die Stigmatisierung – das Schubladendenken – schneller als in der „anonymen Stadt“.
Die Wohnungfrage bei Hartz-IV-Empfängern ist schwierig
Infrastruktur anonym nutzen oder im ländlichen Idyll Vorurteilen aussetzen? Katharina will sich trotzdem fürs Dorf entscheiden. Für den Umzug selber hätte sie Freunde, die ihr helfen. Das Jobcenter zahlt Unterstützung, wenn der Umzug aus Sicht der Behörde „objektiv notwendig“ ist. Aber auch dann wird nach Angaben des Jobcenters Augsburg keine Umzugsfirma bezahlt, sondern zum Beispiel ein Transporter, den die Familie selbst belädt. Wie es in Katharinas Fall wäre, ob die Miete weiter voll bezahlt werden würde, wird erst entschieden, wenn es so weit ist.
Friedrich weiß, wie kompliziert die Wohnungsfrage bei Hartz-IV-Empfängern ist. Er bekommt Arbeitslosengeld II seit der Einführung 2005 und hat über die Jahre einiges mitbekommen. „Die meisten müssen in Löchern wohnen“, sagt er. Seine Wohnung ist 49 Quadratmeter groß und damit knapp unter dem vorgegebenen Richtwert. Die Kosten von 412 Euro warm sind angemessen, er bekommt sie vom Jobcenter – zusätzlich zum Regelsatz von 404 Euro. Friedrich kennt alle Details zum Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II), denn er hat in seiner „Hartz-IV-Bibel“ alles nachgelesen. Damit meint er den „Leitfaden für Arbeitslose“, erschienen im Fachhochschulverlag auf 688 Seiten. Es ist quasi sein Überlebens-Ratgeber. Für den 55-Jährigen ist das Leben in Arbeitslosigkeit eher ein „Überleben“. Er verlor seinen Job als Großhandelskaufmann bei einer Firma als diese verkauft wurde.
Seither lebt er nach neuen Regeln. Er meldete sein Auto ab und gibt kein Geld mehr für Kino oder Treffen mit Freunden aus. Er wird eh nicht mehr eingeladen, sagt er. Auch Hirseland ist während seiner Forschungen auf Schamgefühle und Rückzug gestoßen. „Viele denken, die anderen da draußen wollen sie nicht mehr.“ Und das nicht immer grundlos, Hirseland spricht sogar von „Unterschichten-Bashing“.
Mythos vererbte Armut?
Wie weit gehen Arbeitslose, um dazuzugehören? Wie viel Geld geben sie dafür aus? Im Internet erzählt eine Hartz-IV-Empfängerin, wie wichtig es ihr sei, ständig ein einigermaßen aktuelles iPhone zu haben. Ihre Strategie: Sie verkauft ihr altes Modell genau dann wieder, wenn sie dafür noch Geld bekommt. Etwas Erspartes drauf und sie kann das fast neueste Modell bezahlen – bis das wieder verkauft wird...
Auch Friedrich hilft sich mit Tricks aus. Schuhe kauft er oft zusammen mit seinem Bruder – auch er lebt von Hartz IV. Zu zweit bekommen sie bei größeren Anschaffungen Rabatt. Manchmal glaubt der 55-Jährige, seine Familie sei mit einer Art Fluch belegt. Auch seine Mutter war auf Zahlungen vom Staat angewiesen. Ist was dran am Mythos von der vererbten Armut? Woher kommt das Klischee von der stark geschminkten blondierten 15-Jährigen aus dem „Hartzer-Haushalt“, die schwanger die Schule abbricht? Hirseland hört das nicht gerne. „Vererben ist falsch – das ist schließlich keine Krankheit.“ Nicht von der Hand zu weisen sei allerdings, dass die Tradierung – also die Weitergabe von Armut – vorkommt, erklärt Kollege Schneider von der Uni Augsburg. „Kinder lernen zwar oft, mit der Armut umzugehen, das heißt aber nicht, dass sie auch lernen, da wieder rauszukommen.“
Niemand hat ein Interesse daran, dass Eltern Armut weitergeben. Deshalb beschäftigen sich Wissenschaftler damit. Die Studie wird im Auftrag des Bundessozialministeriums erstellt. Die Autoren sollen Empfehlungen an die Politik weitergeben. Vor allem, was die Situation der Kinder betrifft, sind sie auf Probleme gestoßen. Hirseland hinterfragt die Regelsätze für Kinder. Die haben mal einen Wachstumsschub, brauchen dann mehr Essen und mehr Geld. „Das kann momentan den Haushaltsplan vieler Familien schnell durcheinanderbringen.“ Schneider sieht Lösungsbedarf, wenn es um Jugendliche und ihr Einkommen geht. „Viele verstehen nicht, warum ihre Freunde von ihrem Ausbildungsgehalt die Welt bereisen können und sie selbst ihr Einkommen für die Familie hergeben müssen.“ Auch das, was ein Schüler bei einem Ferienjob verdient, wirkt „bedarfsmindernd“, sobald es 1200 Euro im Jahr übersteigt. Es gilt eben: Mitgehangen...