Herr Hertwig, die Zahl der Corona-Neuinfektionen steigt. Viele Menschen scheinen zu locker im Umgang mit den Regeln. Ministerpräsident Markus Söder beklagt im Umgang mit dem Virus einen gewissen Schlendrian. Hat er recht?
Ralph Hertwig: Möglich ist das – aber man kann das auch anders interpretieren: Die Vielzahl der Maßnahmen, die im Laufe der Zeit diskutiert wurden, und die unterschiedlichen Regelungen haben bei manchen Menschen das Gefühl hinterlassen: Die wissen ja nicht, was sie tun. Oder: Dem kann ich gar nicht gerecht werden, weil ich nicht weiß, welche Regel jetzt genau gilt – etwa über Weihnachten. Die sich ändernden Corona-Regeln erschienen einem fast wie ein Dschungel, in dem man sich nicht mehr zurechtfindet. Das heißt, das, was manche Politiker gerade als Schlendrian bezeichnen, könnte auch eine Mischung aus Unsicherheit und einer gewissen Resignation sein.
"Damals gab es noch keine Kakofonie der Meinungen"
Geht uns in der zweiten Welle dieser Corona-Krise vielleicht auch die Solidarität verloren?
Hertwig: Dass wir gegenwärtig das Gefühl haben, weniger solidarisch zu sein, ist vielleicht einfach nur ein fast unvermeidliches Stadium eines normalen Entwicklungsprozesses. Im Frühjahr war die Situation mit Blick auf die gesellschaftliche Solidarität günstig. Unsere Verhaltensweisen wurden durch die Umstände sozusagen synchronisiert: Wir sind – bildlich gesprochen – alle in die gleiche Richtung gelaufen. Ein Vergleich: Wenn es in einer sehr belebten Einkaufsstraße einen lauten Knall gibt, dann schauen alle in die gleiche Richtung – nämlich dorthin, wo der Knall herkam. Beim ersten Lockdown haben wir alle diesen großen Knall gehört. Da stand plötzlich diese neue, unbekannte und potenziell katastrophale Bedrohung im Raum. Wir befanden uns alle in der gleichen Lage – ohne Wissen, ohne Erfahrung. Zudem war damals noch keine Kakofonie der Meinungen zu vernehmen. Das hat den Eindruck der Solidarität vermittelt und uns effektiv auch solidarisch handeln lassen.
Was ist dann passiert?
Hertwig: Dann hat ein ganz normaler Entwicklungsprozess eingesetzt: Der eine hat mehr Wissen, der andere weniger, der eine hatte einen Krankheitsfall in der Familie, der andere gar keine persönliche Erfahrung, der eine hatte nach einer Infektion nur einen Schnupfen, der andere lag auf der Intensivstation, der eine denkt beim Thema Impfstoff an Risiken, der andere an Gesundheitsschutz. Wir haben uns wieder zu dem entwickelt, was wir vor Beginn der Krise waren: eine hochdifferenzierte Gesellschaft mit unterschiedlichem Wissen, unterschiedlichen Erfahrungen, Werten und Überzeugungen. Jetzt wieder eine Synchronisation des Verhaltens herzustellen, uns also alle wieder solidarisch handeln zu lassen, egal ob uns die Umstände dazu stupsen oder aus Überzeugung, ist eine schwere Aufgabe.
Psychologe: Im Kampf gegen Corona sind klare und einfache Regeln wichtig
Ist es denn überhaupt möglich?
Hertwig: Es gibt drei Dinge, die helfen könnten, diese Synchronität wiederherzustellen. Das eine sind ganz klare und einfache Regeln – das ist eine wichtige Voraussetzung dafür, damit wir bildlich gesprochen überhaupt wissen, in welche Richtung wir schauen sollen. Der zweite Punkt sind starke soziale Normen. In den asiatischen Ländern haben wir gesehen, dass die dortigen Verhaltensregeln perfekt in die Pandemie gepasst haben: Man trägt Masken im öffentlichen Raum und schüttelt sich nicht die Hand zur Begrüßung. Das könnte auch bei uns selbstverständlicher Teil der Normalität werden. Und dann würden soziale Normen und kulturelle Routinen ebenfalls pandemiegerechtes Verhalten synchronisieren. Der dritte Punkt könnte ein erneuter großer Knall sein, der uns in die gleiche Richtung blicken lässt: Genau das, was wir gerade erleben – immer höhere Infektionszahlen, furchterregend steigende Todeszahlen –, könnte so ein taktgebender Schockmoment sein.
Die Politik versucht diesen Schockmoment durch möglichst drastische Warnungen zu verstärken. Ist das sinnvoll?
Hertwig: Es ist zumindest kein unübliches Mittel der Kommunikation. Denken Sie an die Schockbilder auf den Zigarettenschachteln. Das Problem: Man gewöhnt sich daran und fängt an, das zu ignorieren. Schock sollte man als politisches Mittel nur sehr, sehr sparsam einsetzen. Das konnte man auch in den vergangenen Wochen beobachten: Wir hatten uns an die hohen Infektionszahlen gewöhnt, wir haben sie als Teil unserer Normalität akzeptiert. Wir können nicht für einen langen Zeitraum in einer Schockstarre verharren. Wenn man also den Schock als Mittel einsetzt, um Menschen aufzurütteln, braucht man einen Plan, wie es danach weitergehen kann. Wir brauchen eine Perspektive.
Kanzlerin Merkel dosiert emotionale Ansprachen sehr sparsam. War das der Grund, warum ihre Appelle doch bei vielen Menschen in diesem Jahr Eindruck hinterlassen haben?
Hertwig: Angela Merkel macht das klug. Ihre Ansprachen zu Corona haben deshalb so eine starke Wirkung, weil sie sich des lauten Knalls so selten bedient. Da hört man hin. Anders als bei jemandem, der das Mittels des Schocks häufig verwendet.
Wie lange halten wir den Lockdown aus?
Der harte Lockdown soll bis zum 10. Januar gehen – doch eine Verlängerung gilt als wahrscheinlich. Wie lange lässt sich ein Zustand, wie wir ihn gerade erleben, wirklich durchhalten?
Hertwig: Wir brauchen einen sehr klaren, nachvollziehbaren, mehrstufigen und bundesweit einheitlichen Katalog von Regeln für die Zeit nach dem Lockdown. Die Politik muss sich überlegen, was sie tun kann, damit diese Regeln verlässlich und langfristig eingehalten werden. Sie muss verständlich erklären, wie sie sich den Einstieg in den Alltag nach dem Lockdown vorstellt. Und sie muss mit dem Katalog sicherstellen, dass wir nicht im Februar oder März im nächsten Lockdown landen. Das ist die große Aufgabe der Politik für die nächsten Wochen und Monate.
Den Lockdown immer weiter zu verlängern ist also unrealistisch?
Hertwig: Die Frage, wie lange wir das aushalten, ist ganz zentral. Es wird sicher davon abhängen, ob wir Erfolge sehen. Wenn die Zahlen hoch bleiben, wird sich die Frage nach dem Nutzen des Lockdowns stellen. Wenn sie sich aber nach unten bewegen, könnten die schrittweisen Erfolge der Politik erlauben, die Maßnahmen erneut zu rechtfertigen und unsere Motivation zu stärken.
Ralph Hertwig ist seit 2012 Direktor am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung in Berlin. Er ist Mitglied der Wissenschaftsakademie Leopoldina, die mit ihrem Brief an die Regierung maßgeblich auf eine striktere Corona-Politik hingewirkt hat.
Lesen Sie hierzu auch:
Virologin Ulrike Protzer: „Müssen uns auf einen wirklich harten Winter vorbereiten“
Wie geht es nach dem zweiten Lockdown weiter?
Die Vergessenen: Drei Solo-Selbstständige erzählen von ihrem härtesten Jahr
- Virologin Ulrike Protzer: „Müssen uns auf einen wirklich harten Winter vorbereiten“
- Wie geht es nach dem zweiten Lockdown weiter?
- Die Vergessenen: Drei Solo-Selbstständige erzählen von ihrem härtesten Jahr
Wir wollen wissen, was Sie denken: Die Augsburger Allgemeine arbeitet daher mit dem Meinungsforschungsinstitut Civey zusammen. Was es mit den repräsentativen Umfragen auf sich hat und warum Sie sich registrieren sollten, lesen Sie hier.