Kontaktbeschränkungen sind ebenso wie häufigeres und vor allem gründlicheres Händewaschen während der Corona-Krise zum Alltag geworden. Eine positive Auswirkung: Die Zahl der Neuinfektionen mit dem neuartigen Coronavirus steigt nicht mehr exponentiell an. Doch wirken sich die im Zuge der Pandemie ergriffenen Maßnahmen und Hygieneregeln auch auf andere meldepflichtige Infektionskrankheiten aus?
Norovirus: Kontaktbeschränkungen könnten Infektionsrisiko mindern
Die vom Robert-Koch-Institut (RKI) ermittelten Daten legen zumindest bei drei Erkrankungen die Schlussfolgerung nahe, dass hier ein Zusammenhang besteht. So zeigen etwa die Meldedaten zu Norovirus-Erkrankungen deutlich weniger Fälle pro Meldewoche als im vergleichbaren Zeitraum der Vorjahre. Helmut Weiß, Amtsarzt im Gesundheitsamt des oberfränkischen Landkreises Kronach, bestätigt diesen Trend. Insgesamt wurden dort - abgesehen vom Coronavirus - weniger als die Hälfte an Infektionskrankheiten gegenüber dem Vorjahr gemeldet. Eine mögliche Erklärung sieht er darin, dass die bestehenden Kontaktbeschränkungen die Verbreitung von Durchfallerregern bremsen, wie aus einer Mitteilung des dortigen Landratsamts hervorgeht.
Auch die akuten Atemwegserkrankungen liegen laut RKI deutlich niedriger als in den Vorjahren. Das zeigt der "Vergleich der für die Bevölkerung in Deutschland geschätzten ARE-Raten" auf der vom RKI betriebenen Website "GrippeWeb". Gemeint sind sogenannte Akute Respiratorische Erkrankungen (ARE). Demnach melden knapp zwei Prozent der Teilnehmer für die Vorwoche eine akute Atemwegsinfektion, im vergleichbaren Zeitraum der Vorjahre waren es vier bis fünf Prozent.
Corona-Maßnahmen wirken sich laut RKI auch auf Influenza aus
Und nicht zuletzt endete die diesjährige Grippewelle überraschend abrupt und fiel mit elf Wochen im Vergleich zu den vorangegangen drei Saisons um mindestens zwei Wochen kürzer aus. Das RKI zieht hier ebenso wie bei den akuten Atemwegserkrankungen den Schluss, dass die bundesweiten Maßnahmen zur Eindämmung und Verlangsamung der Covid-19-Pandemie in Deutschland erheblich zur Verkürzung und zum schnellen Abklingen der Influenza-Aktivität beigetragen haben. Auch die Schulschließungen ab der zwölften Kalenderwoche 2020 werden bei der Grippewelle als Erklärung herangezogen, wie ein Blick in das Epidemiologische Bulletin 16/2020 zeigt.
Für Christian Lübbers, HNO-Arzt aus Weilheim in Oberbayern, liegt ebenfalls die Vermutung nahe, dass die Corona-Hygieneregeln das allgemeine Infektionsrisiko senken. Am 25. Mai schrieb er auf Twitter: "Als positiven Nebeneffekt strenger Hygieneregeln in Kindergärten und Schulen nehme ich wahr, dass sich deutlich weniger Kinder mit Infekt, Paukenerguss oder Mittelohrentzündung bei mir vorstellen."
Gehen viele Menschen aus Angst vor Ansteckung nicht zum Arzt?
Auch wenn es naheliegend scheint: Lassen sich die Fallzahlen aus den vom RKI erfassten Meldedaten zu Influenza, Norovirus- oder Atemwegserkrankungen tatsächlich auf die Hygieneregeln und Kontaktbeschränkungen im Zusammenhang mit der Corona-Pandemie zurückführen? Der Bezirksvorsitzender Schwaben des Bayerischen Hausärzteverbandes (BHÄV), Dr. Jakob Berger, ist skeptisch. "Ich glaube, die Verminderung der Noroviren und der Grippeviren hat nicht an Hygienemaßnahmen gelegen. Ich denke eher, dass es viele Menschen gibt, die ihre Erkrankungen selber zu Hause auskuriert haben, anstatt zum Arzt zu gehen. Deshalb sind die Fälle wohl gar nicht bekannt geworden", sagt Berger.
Der in Herbertshofen im Landkreis Augsburg niedergelassene Allgemeinarzt nimmt auch in seiner Praxis wahr, dass Patienten wegen des Coronavirus eine größere Hemmschwelle haben, zum Arzt zu gehen. "Wir hatten in den vergangenen Wochen einen deutlich verminderten Patientenstrom. Die Angst vor einer Infektion war sicher der Hauptgrund." Diese Angst sei nun jedoch nicht mehr begründet. Man habe inzwischen ausreichend Vorsichtsmaßnahmen und Schutzausrüstung in der Praxis, versichert Berger. "Es ist wichtig, dass die Patienten wieder kommen, weil sonst etwa bei Herz- oder Zuckererkrankungen Behandlungslücken entstehen."
Hausärzteverbands-Bezirksvorsitzender appelliert bei Hygiene-Maßnahmen an den Verstand
Für die vergleichsweise kurze Grippewelle-Zeit hat Jakob Berger eine andere Erklärung: "Man merkt bei dem Verlauf der Grippewelle die höhere Zahl der Grippegeimpften aus dem Vorjahr. Außerdem hatten wir einen milden Winter, es war kein 'Virenwetter'." Die Grippewelle sei zudem bereits abgeflacht gewesen, als das Coronavirus aufkam, erläutert Berger. Er gehe auch davon aus, dass sich als Reaktion auf Corona in Zukunft mehr Menschen gegen die Grippeviren impfen lassen.
Der Bezirksvorsitzende des Hausärztesverbands schließt einen Einfluss der Corona-Maßnahmen auf andere Infektionserkrankungen nicht gänzlich aus, relativiert die Hygieneregeln jedoch: "Die Kontaktbeschränkungen spielen bei der Verbreitung sicher eine Rolle, ob Masken oder Desinfektionsmittel einen so großen Einfluss haben, wage ich zu bezweifeln." Auch unabhängig vom Coronavirus sei Händewaschen mit Seife immer sinnvoll, man solle es jedoch nicht übertreiben. Er sei kein Befürworter von häufigem Hände desinfizieren, so Berger. "Mit zu viel Desinfektionsmittel stört man die Hautflora und das kann zu Hautreizungen und Ekzemen führen. Man sollte den Hausverstand walten lassen und nicht zu viel Angst haben."
Berger: Mund-Nasen-Schutz wird in Erkältungszeit wohl empfohlen bleiben
Der Allgemeinarzt blickt mit gemischten Gefühlen auf die kommende Virenzeit im Herbst und die Grippezeit im Spätwinter. "Wenn all diese Erkrankungen mit Covid-19 zusammenkommen, erkennt anhand der Symptome keiner mehr den Unterschied. Ich nutze die Covid-19-Antikörpertests in der Praxis bisher nur sparsam und verlasse mich nicht darauf. Auch auf die Abstriche kann man sich bisher nicht hundertprozentig verlassen." Die Ergebnisse würden sich teilweise widersprechen.
Hygienemaßnahmen und Kontaktbeschränkungen sind Berger zufolge in jedem Fall hilfreich, würden jedoch eine Ansteckung mit dem Coronavirus nicht gänzlich verhindern. Und das sei auch nicht das Ziel. Denn, so Berger, auch wenn es wichtig ist, Risikopatienten weiterhin bestmöglich zu schützen, wäre es gut, wenn sich möglichst viele Menschen - ohne Vorerkrankungen - infizieren würden. "Wir müssen die Herdenimmunität so schnell wie möglich erreichen, am besten durch Impfungen." Der Allgemeinarzt erwartet, dass der Impfstoff schneller auf dem Markt sein wird als sonst üblich. Er spricht sich jedoch nicht zuletzt wegen der Akzeptanz in der Bevölkerung für ausreichende Tests zur Verträglichkeit der Impfstoffe aus.
Ein Teil der Corona-Maßnahmen wird wohl auch in Zukunft unseren Alltag begleiten. Berger ist sich sicher: Wenn im Herbst die Erkältungswelle kommt, werden Masken nicht Pflicht, aber doch empfohlen bleiben, da die Mund-Nasen-Maske die Tröpfcheninfektion deutlich vermindere. "Ich habe jeden Tag etwa zehn Stunden die Maske auf, das ist unangenehm, aber auch sinnvoll." Sollte das Coronavirus zur Mutation neigen, wird es Berger zufolge ähnlich wie bei der Grippe irgendwann auch hier jedes Jahr einen neuen Impfstoff geben. "Wir werden lernen müssen, mit dem Coronavirus zu leben", resümiert der BHÄV-Bezirksvorsitzende. "Und die neuen Hygieneregeln schaden auch nicht, wenn die Corona-Pandemie verschwunden ist. Gerade zu Erkältungszeiten sind häufiges Händewaschen und Abstandhalten sinnvoll, denn die 'Bussi-Gesellschaft' trägt natürlich auch zu Übertragungen bei."
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