Diskussion um Kimmich-Äußerung: Was sagen Experten zu möglichen Langzeitrisiken aufgrund der Corona-Impfung?
Wissenschaftlicher Konsens ist das, was Carsten Watzl, Generalsekretär der Deutschen Gesellschaft für Immunologie, so formulierte: „Was offensichtlich viele Menschen unter Langzeitfolgen verstehen, nämlich dass ich heute geimpft werde und nächstes Jahr eine Nebenwirkung auftritt, das gibt es nicht, hat es noch nie gegeben und wird auch bei der Covid-19-Impfung nicht auftreten.“ Watzl verwies darauf, dass Nebenwirkungen einer Impfung immer innerhalb von wenigen Wochen nach der Impfung auftreten. „Danach ist die Immunreaktion abgeschlossen, und der Impfstoff ist aus dem Körper verschwunden.“ Auch der Vorsitzende der Ständigen Impfkommission (Stiko), Thomas Mertens, hat die Bedenken von Fußball-Nationalspieler Joshua Kimmich wegen fehlender Langzeitstudien zurückgewiesen.
Wenn ein Impfstoff zur Verwendung an Menschen freigegeben wird, gebe es begleitende Studien, die genau untersuchten, ob es bei der Anwendung zu schwerwiegenden Nebenwirkungen kommen könne, erwiderte Mertens. „Man muss bedenken, dass mittlerweile sieben Milliarden Dosen mit Covid-19-Impfstoff an Menschen verimpft worden sind“, sagte er. „Dass es bei der Anwendung eines Impfstoffes über knapp ein Jahr keine Zehnjahresbeobachtungsstudien geben kann, ist klar.“ Das gelte aber nicht nur für jeden anderen Impfstoff auch, der neu angewendet werde, sondern auch für jedes neue Medikament. „Neben den Zulassungsstudien wissen wir aus den begleitenden Studien, dass es nur zu einigen Nebenwirkungen gekommen ist, die alle recht kurze Zeit nach der Impfung aufgetreten sind“, sagte der Stiko-Chef.
Wie sicher sind die Corona-Impfstoffe, vor allem die mRNA-Impfstoffe?
Joshua Kimmich hatte seine Entscheidung unter anderem mit „Bedenken, gerade, was fehlende Langzeitstudien angeht“, begründet. An den genbasierten mRNA-Impfstoffen, die auf einer neuartigen Technologie beruhen, arbeiten Forscher aber schon seit Jahrzehnten. Die Corona-Pandemie beschleunigte die Entwicklung enorm: Plötzlich gab es viel mehr Geld, Wissenschaftler stürzten sich weltweit auf das Thema. Auch andere Vektor-Impfstoffe kamen rasch auf den Markt. In Deutschland seien über 100 Millionen und weltweit über sechs Milliarden Dosen an Corona-Impfstoffen verabreicht worden, sagte Immunologe Watzl dazu. Daher kenne man bereits mögliche seltene Nebenwirkungen bei Vektor-Impfstoffen wie Sinusvenenthrombosen. Die gesundheitlichen Risiken bei Covid-Infektionen seien jedoch viel, viel größer als bei Impfungen, sagte Dirk Brockmann von der Berliner Humboldt-Universität.
Einige Dinge sind aus Expertensicht klar: „Hinzu kommt: Durch die Impfung vieler Menschen werden vulnerable Gruppen wie Ältere und Vorerkrankte geschützt“, sagte Brockmann. Und: Eine Corona-Infektion von Ungeimpften sei quasi unausweichlich. „Das Coronavirus wird in der Welt bleiben, es wird sicher neue Varianten bilden, aber es wird nicht verschwinden.“
Greifen mRNA-Präparate in die menschliche DNA, das Erbgut, ein?
Sogenannte mRNA-Impfstoffe werden etwa von den Unternehmen Biontech oder Moderna hergestellt. In der Abkürzung steht das „m“ für messenger und „RNA“ für ribonucleic acid (Deutsch: Ribonukleinsäure). Vorher wurde noch kein Impfstoff dieser Art für den Menschen zugelassen. Klassische Impfungen basieren auf toten oder abgeschwächten Viren, die in mRNA-Präparaten aber nicht vorkommen. Stattdessen enthalten die Impfstoffe die Bauanleitung für einen Bestandteil des Covid-19-Erregers.
Auf dieser Grundlage stellen die Körperzellen ein Virusprotein her, gegen das der Körper dann seine Immunantwort entwickelt. Die mRNA wird dabei nicht in das Erbgut des Menschen eingebaut. „Eine Integration von RNA in DNA ist unter anderem aufgrund der unterschiedlichen chemischen Struktur nicht möglich“, heißt es dazu beim Paul-Ehrlich-Institut, das in Deutschland für die Zulassung und Prüfung von Impfstoffen zuständig ist. Das heißt: Die mRNA erreicht gar nicht erst die Zellkerne, wo sich das Erbgut in Form von DNA befindet. Die Botenmoleküle wandern nur ins Zellplasma, wo sie abgelesen und schnell wieder abgebaut werden. Gentechnik spielt also nur beim Herstellungsprozess des Impfstoffs eine Rolle.
Joshua Kimmich ist nicht der Einzige, der Angst vor einer Impfung hat. Wie realistisch ist es, dass wir die Herdenimmunität erreichen?
Bisher haben sich rund 69 Prozent der Menschen in Deutschland mindestens eine Dosis gegen Covid-19 spritzen lassen. Etwa 66 Prozent gelten als vollständig geimpft. In der frühen Phase der Pandemie galt, dass zum Erreichen der Herdenimmunität etwa zwei Drittel der Bevölkerung durch Impfung oder Infektion immun geworden sein müssten. Doch seit dem Aufkommen der ansteckenderen Delta-Variante gehen Experten nicht mehr davon aus. Keiner kann sich nun darauf verlassen, durch ein weitgehend geimpftes Umfeld geschützt zu sein.
Wo fehlen die meisten Impfungen?
In jedem Fall bestehe noch eine Impflücke bei der am stärksten gefährdeten Gruppe über 60 Jahren, erklärte Ralf Bartenschlager, der Präsident der Gesellschaft für Virologie. Man müsse bedenken, dass in dieser Altersgruppe etwa 20 Prozent aller übermittelten Covid-19-Fälle stationär versorgt werden müssten. „Daher sollten wir sehr darauf achten, dass ältere Menschen in unserem Umfeld geimpft sind und, wenn die vollständige Immunisierung bereits länger als sechs Monate zurückliegt, eine dritte Immunisierung erhalten.“ Bezogen auf die Gesamtbevölkerung haben mehr als 25 Millionen keinen Impfschutz – darunter 9,2 Millionen Kinder unter zwölf Jahren, für die es bislang in Europa keinen zugelassenen Impfstoff gibt. Es gibt damit unter dem Strich weitaus mehr ungeschützte Menschen, als sich in Deutschland nachweislich infiziert haben.
Wie können weitere Menschen zum Impfen motiviert werden?
Resultate der Cosmo-Erhebung, für die seit März 2020 regelmäßig knapp 1000 Erwachsene befragt werden, lassen es fraglich erscheinen, ob die Impflücken geschlossen werden können: Demnach haben sich fast alle impfbereiten Erwachsenen unter 75 Jahren bereits die Spritzen geben lassen. Nur noch sechs Prozent in dem Alter seien impfbereit. „30 Prozent der Ungeimpften sind zögerlich, 64 Prozent sagen, sie wollen sich auf keinen Fall impfen lassen.“ Die Zielimpfquoten des Robert Koch-Instituts (RKI) lauten: mindestens 85 Prozent bei den 12- bis 59-Jährigen und mindestens 90 Prozent bei Menschen über 60. Zudem werden Maske, Abstand und Co. bis zum Frühjahr weiterhin empfohlen. (dpa, AZ)