Mancher sensible – oder wie man in unserer Gegend sagen würde: „gschamige“ Charakter wird beim Lesen des Gedichts „Under der linden“ des Walthers von der Vogelweide wohl heute noch erröten. Und im Sortiment eines großen Augsburger Buchhandelsunternehmens wäre es vor einigen Jahren vielleicht noch im Sortiment „Erotische Literatur“ zu finden gewesen. Schließlich beschreibt der Urvater der deutschen Lyrik und Begründer des höfischen Minnegesangs nichts weniger, als das (außereheliche) Tête-à-Tête – in unserer Gegend auch „Schmusen“ oder „Schnakseln“ genannt – eines Liebespaares. Zu Zeiten des Dichters, im ausgehenden 12. Jahrhundert, war Privatsphäre noch ein Fremdwort. Während sich liebestolle Abenteuer heute in Stundenhotels, im Auto oder einfach in den eigenen vier Wänden abspielen, musste man damals etwas härter im Nehmen sein – und sich in der freien Natur eine kuschelige Bettstatt suchen. So wählt das erdichtete Pärchen für sein leidenschaftliches Scharmützel eine von Blumen umwachsene Linde.
Tatsächlich wurde der stattliche Baum im Volksbrauch wie in der Literatur häufig mit dem Thema Liebe in Verbindung gebracht. Ob dies vielleicht an seinen herzförmigen Blättern liegen mag? Sie gaben jedenfalls das perfekte Beiwerk für Brautschauen und Maienehen ab. Die Linde war ein stolzer Baum, ein wichtiger Baum, der in keiner Siedlung fehlen durfte.
Winterlinde als Grundlage für Honig und Baumaterial
Imker schätzten die wissenschaftlich Tilia bezeichnete Pflanze als Grundlage für feinsten Bienenhonig. Schreiner fertigten aus dem weichen, gut zu verarbeitenden Holz traumhafte Schnitzarbeiten, wie das überwältigende Marien-Retable der Creglinger Herrgottskirche. Und Kräuterweiblein schätzten die Blüten als Sud für ihre beruhigende Wirkung gegen Beschwerden aller Art. Dann kam das Automobil. Und mit den zunehmenden Abgasen verschwanden die früher so üppigen Lindenbestände, die Alleen und Tanzlinden mehr und mehr. Rund 800 Jahre nach dem romantischen Date aus Walthers Feder kam die Winterlinde 2016 aber zu neuer Ehre. Sie durfte sich mit dem Titel „Baum des Jahres“ schmücken.
Nicht etwa, weil sie vom Aussterben bedroht wäre (im Gegenteil: in deutschen Städten ist der Baum wieder relativ häufig anzutreffen); nicht etwa, weil ihre Blüte zu den üppigsten in unseren Breiten zählt (im Gegenteil: die erst Ende Juni auftretenden, weißlichen Kronblätter sind eher unauffällig, wenngleich herrlich duftend und nektarreich); nicht etwa, weil die Linde zu seiner früheren gesellschaftlichen Rolle zurückfinden würde (im Gegenteil: wo früher Linden standen, wachsen heute Mehrzweckhallen empor). Nein, aus einem ganz banalen Grund: Ganz einfach, weil sie ein wunderschöner, liebenswerter und besonderer Baum ist. Und das wusste schon der alte Walther.
Winterlinde: Standort, Pflege und Steckbrief
In Deutschland hat der Lindenbaum eine lange Tradition: In vielen Dörfer markierte er das Zentrum und damit den Mittelpunkt des gesellschaftlichen Lebens. Kein Wunder also, dass unter dem Blätterdach des wuchtigen Riesen nicht nur wichtige Mitteilungen verlesen, sondern auch die wichtigsten Feste des Jahres abgehalten und selbst Gerichtsurteile gesprochen wurden. Im Laufe der Jahrhunderte hat sich unsere Kultur jedoch stetig verändert – Tanzlinden etwa, die sogar noch ihrem eigentlichen Zweck zukommen, sind heute nur noch in wenigen Ortschaften zu finden; die uns nächstgelegene vermutlich im oberfränkischen Langenstadt bei Bayreuth.
Steckbrief:
- Name: Winterlinde
- Botanischer Name: Tilia cordata
- Familie: Malvengewächse (Malvaceae)
- Unterfamilie: Tilioideae
- Lebensraum: europaweit, vorwiegend in den Mittelgebirgen
- Lebenserwartung: bis zu 1000 Jahre
- Blütezeit: Juni bis Juli
- Blütenfarbe: weißlich
- Wuchshöhe: bis zu 30 Meter
- Boden: meist tiefgründig, auch nährstoffarm und sauer
Pflegehinweis:
- auf ausreichend Platz achten!
- unterirdische Rohre und Leitungen berücksichtigen junge Bäume ausreichend gießen
- vor Frost schützen einmal jährlich ausschneiden