Eine blutrünstige Mücke hatte die neunjährige Victoria die Nacht zuvor ins Lid gestochen und entsprechend geschwollen war ihr Auge. Das juckt fürchterlich und ihre Stimmung ist auf dem Tiefpunkt. Auch bei der sechsjährigen Tabea ist die Laune nicht die beste, denn sie hatte gerade erst ihr drittes Outfit anprobiert und war eigentlich noch lange nicht fertig, als ihr Vater Georg Menhard sie zum Aufbruch drängte. Denn am heutigen Sonntag steht der Walderlebnispfad in Ried auf seinem Ausflugsprogramm. Dieser wurde Ende März eröffnet mit einem besonderen Konzept: Der Rundgang soll die Ergebnisse der Waldklima-Forschung für die Bevölkerung sichtbarer machen. Außerdem gewährt er Einblicke in den Wald, der oft nur als Kulisse für die Freizeitgestaltung wahrgenommen wird.
Das wollte sich Georg Menhard anschauen. Denn dem Naturfreund ist es wichtig, mit seinen beiden Töchtern möglichst oft ins Grüne zu gehen. Für ihn als Inhaber eines Augsburger IT-Unternehmens, der sich den ganzen Arbeitstag mit der komplexen Welt von Programmen beschäftigt, ist der Wald der Inbegriff der Erholung, die Quelle für neue Kraft und Ideen. Seinen beiden Töchtern will er das weitervermitteln. Dafür nimmt der gebürtige Friedberger auch gerne die halbstündige Anreise aus Augsburg in Kauf, ebenso die etwas miesepetrigen Mädchen in den Kindersitzen.
Jedes Holz klingt anders auf dem Walderlebnispfad Ried
Als die Familie den Waldpfad betritt, ist anfangs bei Victoria und Tabea die Begeisterung noch verhalten. Gequält lächeln sie, als der Papa an der geschnitzten Eule, die direkt am Eingang die Besucherinnen und Besucher begrüßt, ein Foto macht. Tabea drückt sich eng an ihren pinkfarbenen Stoffhasen mit den spitzen, weißen Zähnen, der zurzeit ihr liebster Begleiter ist, und hat erst einmal Durst. Victoria friert es in ihrem Einhorn-T-Shirt und ihren kurzen Hosen. Doch der Vater ist auf solche Wünsche vorbereitet und zaubert aus seinem Rucksack eine Capri-Sonne. Die ältere Tochter kann sich in Papas schwarzen Sweater kuscheln. Alle sind zufrieden – es kann losgehen.
Nach ein paar Metern treffen sie bereits auf die erste Infotafel "Baumarten zum Hören": Mit einem Holzhammer kann man gegen ein Holzstück aus Fichte, Esche, Buche und anderen Arten klopfen und vernimmt jeweils unterschiedliche Töne. Victoria spielt gleich "Alle meine Entchen" und bekommt von ihrem Vater gebührenden Applaus. Ihre Schwester hat dagegen gerade die vielen Tierfiguren aus rostigem Metall entdeckt, die überall im Wald versteckt sind.
Auf einem Baumstumpf ist etwa ein putziger kleiner Fuchs platziert. Das Kindergartenkind klettert sofort hoch und posiert für einen Schnappschuss. Victoria erkennt trotz ihres angeschwollenen Auges ganz weit entfernt und für Erwachsene kaum sichtbar eine Wildschweinfigur. Die beiden Mädchen rennen kichernd hin. Ein paar Schritte weiter folgt schon wieder eine Schautafel: "die Wald-Klimastation". Die Drittklässlerin liest vor: "Ich bin ein Wetter-Laubfrosch. Ich freue mich, wenn es schön feucht im Wald ist. Leider wird es bei uns immer wärmer und trockener. Die Menschen sagen dazu Klimawandel."
Ein Borkenkäfer kann 80.000 Kinder und Enkel im Jahr haben
Die Besucherinnen und Besucher erfahren, dass an der Messstation im Höglwald seit Jahrzehnten die Niederschlagsmengen und Temperaturen gemessen werden. Und dass man durch den Vergleich der Messdaten sehen könne, wie sich das Klima wandelt. Die zwei Mädchen schauen neugierig hinter den Zaun an der Station, dort sind einige Bäume mit großen Zahlen markiert. Warum das so sei, wollen sie wissen. Der Vater erklärt, dass beispielsweise gemessen werden kann, wie dick die Bäume sind und wie der Zustand der Krone ist. Man schaut aber auch, wie der Zustand des Bodens ist und wie Vegetation dort gedeiht.
An der nächsten Station wird den Mädchen der Borkenkäfer vorgestellt: 80.000 Kinder und Enkel kann dieser in einem Jahr haben, erfahren sie. Weil sich die Käfer in die Rinden der vom Klimawandel geschwächten Fichten fressen, werden die Fichtenwälder immer lückiger und heller.
Ein paar Meter weiter entdeckt Tabea einen wunderschönen Stein, den ihr Papa sofort einpacken muss. Doch schon zieht ein Turm die Aufmerksamkeit der beiden Kinder auf sich. Sie löchern ihren Vater mit Fragen: Warum steht im Wald so ein Turm? Wie hoch ist der? Zum Glück gibt Schild Nummer 4 die richtigen Antworten: Der Turm ist 50 Meter hoch und mit ihm wird der Kohlendioxid-Gehalt in der Luft gemessen.
Schon geht es wieder weiter. Zum Glück haben die zwei Kinder den etwas im Gebüsch versteckten Wegweiser mit dem Wildschwein Fridolin entdeckt. Der zeigt nämlich einen schmalen und weitaus abenteuerlichen Weg abseits des breiten Pfades an. Die Familie wird zu einem verborgenen Tümpel geleitet. Victoria liest auf dem Infoschild, dass der für die seltene Gelbbauchunke extra angelegt wurde. Die Förster haben das Feuchtbiotop aber auch gegraben, damit Molche, Frösche und Kröten einen Platz im Wald finden. Anschließend führt der wilde Pfad weiter zu einem Biotopbaum. "Tok, tok, tok, ich bin ein Buntspecht! Ich baue meine Höhlen ins Holz! Deshalb nennen mich die Menschen auch den Zimmermann des Waldes", trägt Victoria vor. Die Mädchen erfahren, dass die vom Specht gehämmerte Baumhöhle nicht lange leer bleibt, auch wenn der Vogel ausgezogen ist. Fledermäuse, Eulen, Hornissen, Goldkäfer und viele weitere Arten machen es sich dort gemütlich. Wegen dieser Nachmieter lassen die Förster gerne alte Spechtbäume stehen, auch wenn sie schon abgestorben sind.
Die Mädchen suchen mit großen Augen den Stamm des nebenstehenden Spechtbaums ab, ob sie Lebewesen darin finden können. Danach rennen sie gleich weiter und stoppen erst wieder an einer hölzernen Aussichtsplattform, der Tierbeobachtungsstation. Echte Tiere lassen sich zwar dort gerade nicht blicken, aber die metallenen Figuren erfreuen die Kinder ebenso. Tabea springt sofort zu den beiden Häschen und macht sie mit ihrem Kuscheltier mit den spitzen Zähnen bekannt. "Gruselhase freundet sich mit anderen Hasen an", scherzt der Papa. Victoria ist dagegen entzückt von dem imposanten Hirsch und turnt um ihn herum.
Für Kinder gibt es auf dem Walderlebnispfad Ried viel zu entdecken
Eine Dreiviertelstunde ist die Familie mittlerweile unterwegs. Für Tabea ist es Zeit für einen kleinen Happen zum Essen. Und auch Victoria verspürt ein Hüngerchen. Papa Georg ist natürlich gewappnet und zieht aus seinem Rucksack Bananen und Apfelstücke hervor. Frisch gestärkt hüpfen die beiden fröhlich weiter. Beinahe wäre ihnen dabei ein besonderes Highlight entgangen: An einer Baumwurzel hat jemand ein Miniatur-Haus gebastelt, mit Mini-Haustür, Mini-Briefkasten und Mini-Haustieren. Das wird natürlich von den Kindern ausgiebig inspiziert und bewundert.
Richtig Spaß haben die Mädchen aber dann gleich im Anschluss an einer Balancierstation, wo sie über zwei gefällte Bäume laufen können – der eine mit glattem Stamm, der andere voller langer Äste. Die zwei gehen erst bedächtig darüber – die Arme weit ausgebreitet, dann werden sie immer schneller und wetteifern, wer es besser kann. Vom Papa bekommen beide ein dickes Lob. Diesen Spaß können die weiteren Stationen dann nicht mehr toppen. Dort geht es um neu gepflanzte Bäume und Baumkinder. Die zwei Mädchen konkurrieren wieder, wer mehr neu gepflanzte Bäume entdeckt.
Als die junge Familie dann nach etwas mehr als einer Stunde wieder zum Startpunkt der rund 1,8 Kilometer langen Strecke kommt, machen Victoria und Tabea noch einmal strahlend bei der geschnitzten Eule ein Abschlussfoto. Zu Hause gibt es jetzt gleich Johannisbeerkuchen, den der Vater mit der Hilfe der beiden frisch gebacken hat. Wenn das kein perfekter Sonntagsausflug ist!