Damals war es ihr noch nicht bewusst, wie stark die Erfahrung sie verändern würde. Der Jakobsweg – einfach eine andere Art Urlaub, dachte Christina Bolte aus Kissing. Nur zwei Wochen war sie bei ihrem ersten Mal 2007 unterwegs, mit Start in Pamplona in Spanien. Rückblickend sagt sie: "Das war ein Wendepunkt in meinem Leben." Sie verließ ihren Job, machte sich selbstständig. Über ihre Erfahrungen sprach die 49-Jährige kürzlich auf dem "Speaker Slam", einer internationalen Veranstaltung, die heuer in Rheinland-Pfalz stattfand. Ihre Rede "Vom Jakobsweg fürs Business lernen" erhielt viel Zuspruch und einen Preis.
Erstes Pilgern prägte das Leben der Kissingerin
Die zwei Wochen, so kurz sie auch waren, hätten den Stein ins Rollen gebracht, erzählt Bolte. Sie arbeitete damals in der Automobilindustrie im Controlling. "Ein leistungsorientierter Job, es ging vor allem um Schnelligkeit." Zwischenmenschliches spielte keine Rolle, der Umgang miteinander war eher kühl und unpersönlich. Dazu habe auch die Einstellung gepasst, die Bolte damals besaß: "Ich war arrogant. Ich dachte, ich weiß, wie das Leben funktioniert." Dann ging sie mit vielen anderen Pilgerinnen und Pilgern auf dem Jakobsweg – und die Ansicht bröckelte.
"Ich habe Leute kennengelernt, die so anders waren, als ich es aus meinem Umfeld kannte", erinnert sie sich. Menschen aus vielen Ländern und Bevölkerungsschichten, mit diversen Meinungen, Geschichten, Erfahrungen. Was sie am meisten an den Begegnungen faszinierte? "Wie schnell man mit eigentlich Fremden bei den existenziellen Fragen des Lebens angekommen ist", sagt Bolte. Und wie offen man sich über tiefgreifende Themen austauschte. Sie erinnert sich an ein Gespräch mit einem anderen Pilger, der aus gesundheitlichen Gründen in den Frühruhestand wechseln musste und den Weg nur mit Mühe bestritt. Andere erzählten ihr von schlimmen Trennungen, Verzweiflung und Sinnsuche. "Das hat mein Weltbild total verändert und neu aufgestellt."
Bolte kündigte ihren Job im Controlling
Zurück in ihrer alten Arbeit fühlte sie sich wie vor den Kopf gestoßen. Was vorher zu ihrem normalen Alltag gehörte, fiel ihr nun unangenehm auf. "Die Mitarbeiter wurden nur in ihren Funktionen und Rollen betrachtet, nicht als Mensch", resümiert Bolte. Ja, man trank Kaffee zusammen, aber wirkliches Interesse habe niemand gezeigt, weder an ihr noch untereinander. Tiefgründige Gespräche? Fehlanzeige. "Da wurde man blöd angeschaut, wenn man sich nach privaten Themen erkundigt hat. Nicht von jedem, aber es war üblich." Zusätzlich litt sie unter Schlafstörungen und körperlicher Erschöpfung. Ihr wurde klar, dass sie nicht bleiben konnte. Sie machte sich auf die Suche nach einem Plan B – und fand ihn in der Selbstständigkeit.
"Der Jakobsweg hat meine Neugierde an Menschen und ihren Geschichten geweckt", erzählt Bolte mit einem Lächeln. Nach verschiedenen Fortbildungen als Heilpraktikerin und Burn-out-Präventionscoach ist sie Beraterin für Gesundheit in Unternehmen in München. Zudem begleitet sie Menschen beim Pilgern, gibt Impulse und Denkanstöße. "Gut gestaltete Auszeiten sind entscheidend, um langfristig leistungsfähig und engagiert zu bleiben", sagt sie. "Danach fühlt sich das Leben oft leichter an, insbesondere dann, wenn man die Orientierung verloren hat."
Was die Kissingerin auf dem Jakobsweg lernte
Beim "Speaker Slam", einem Rednerwettstreit im Rahmen einer mehrtägigen Veranstaltung, erarbeitete Bolte einen Vortrag über ihre Erfahrungen und hielt ihn vor einem größeren internationalen Publikum. Es habe ihr gutgetan, über ihr Herzensthema zu sprechen. "Das war eine echte Herausforderung, vor so vielen Leuten auf der Bühne zu stehen. Ich bin froh, dass ich mich getraut habe."
Den Jakobsweg hat Bolte seit ihrem ersten Mal öfter beschritten. Obwohl viele der Abschnitte voller sind als früher, ist der Zauber für Bolte geblieben. "Vielleicht liegt es daran, dass man sich fremd ist und nie wieder sieht? Vielleicht liegt es in der Luft?", rätselt die Kissingerin. Vom empathischen Miteinander abgesehen habe ihr das Pilgern auch auf andere Weise die Augen geöffnet. Wie wichtig der Umgang mit Hindernissen und Schwierigkeiten ist, sowohl auf dem Jakobsweg als auch in der Arbeit. Seine Kräfte einteilen, eigene Grenzen kennenlernen und einhalten. Etwas Neues wagen, sich selbst vertrauen. "Und zu sehen, was liegt außerhalb dessen, was ich kenne und gewohnt bin? Oft liegen sehr viele schöne Erfahrungen am Wegesrand."