Anne Frank ist eine Ikone. Jeder kennt ihr Bild. Viele haben ihr Tagebuch gelesen, waren schon einmal im Anne-Frank-Haus in Amsterdam. „Das Tagebuch der Anne Frank“ ist Schullektüre. Zurecht: Ihre Aufzeichnungen sind nicht nur ein Dokument, das die grausamen Folgen der antisemitische Ausgrenzungs- und Vernichtungspolitik im Nationalsozialismus belegt, sondern auch die Bekenntnisse einer 13-Jährigen, die die ganz gewöhnlichen Probleme einer Jugendlichen hat, sich mit ihrer Mutter streitet, ihre erwachende Sexualität genießt und trotz widriger Umstände erwartungsvoll ins Leben blickt.
"Das Tagebuch der Anne Frank" zeigt Protagonistin als stolzes Mädchen
Das Wissen um die Ermordung Anne Franks, die im März 1945 im KZ-Bergen-Belsen starb, hat den Blick auf die „normale“ Jugendliche oft verstellt. Hier setzt Hans Steinbichlers Verfilmung an, die sich dem Menschen und nicht dem Mythos Anne Frank verpflichtet fühlt. Er zeigt Anne zu Beginn des Films, bevor die Familie untertaucht. Ein stolzes, widerspenstiges und eigensinniges Mädchen, das sich danach sehnt endlich erwachsen zu werden, den anzüglichen Avancen der Jungs auf der Straße mit einem überlegenen Lachen begegnet und sich auch von den uniformierten Jeugdstorm-Kerlen (niederländische HJ) nicht einschüchtern lässt, die Anne und ihren jüdischen Freundinnen das Baden im Meer verbieten.
Zum 13. Geburtstag bekommt sie von ihrem geliebten Vater (Ulrich Noethen) das Rotweiß karierte Tagebuch geschenkt, das zu ihrer Vertrauten wird. Besonders im Versteck in der Prinsengraacht, in das die Familie überstürzt aufbricht, als die Nazis ihre Schwester Margot (Stella Kunkat) holen wollen. Das Hinterhaus ist in Steinbichlers Film kein finsterer Ort, sondern ein Mikrokosmos mit Licht und Schatten, in dem familiäre Konflikte auf engem Raum schnell hochkochen.
Dabei bleibt der Film immer nah dran an Annes Perspektive, die sich mit der Herzlosigkeit der Pubertät von ihrer Mutter (Martina Gedeck) löst, der nörgelnden Mitbewohnerin Frau van Daan (Margarita Broich) Paroli bietet und mit deren Sohn heimlich auf den Dachboden erste Knutschversuche unternimmt. Natürlich verlagert auch dieser, am direkten Leben orientierter Film, nicht alles in Handlung und Dialoge, sondern spielt auch Tagebuch-Fragmente aus dem Off ein. Die Auswahl der Zitate zielt einerseits auf die intime Nähe zur Figur und zeigt andererseits die enorme intellektuelle Schärfe, mit der diese Heranwachsende auf ihre zukünftige Rolle als Frau und die kriegszerrüttete Welt dort draußen blickt.
Kino: Lea van Acken verkörpert Anne Frank glaubwürdig
Ein wahrer Glücksgriff ist Lea van Acken („Kreuzweg“) in der Rolle der Anne, die die emotionalen Turbulenzen des Jugenddaseins genauso glaubwürdig darstellt, wie die Courage, Verletzlichkeit und Ängste dieses eigensinnigen Mädchens, das man erst allmählich, dafür dann umso fester ins Herz schließt. Aber auch Ulrich Noethen ist herausragend als Vater, der der Tochter Halt bietet, obwohl er selbst unter der Verantwortung fast zerbricht.
Steinbichler erzählt Annes Geschichte über die Grenzen des Tagebuchs hinaus. Er zeigt die Verhaftung, die von den Nazis mit gespenstischer Ruhe und Routine durchgeführt wird, und den Transport bis zur Aufnahme in Auschwitz. Auch hier wird auf Eindringlichkeit und nicht auf brutale Effekte gesetzt. Seine Intensität bezieht dieser überraschend lichte Film daraus, dass er Anne Frank als widersprüchliches, garstiges, sehnsüchtiges, hoffnungsfrohes Mädchen zeigt, das trotz widriger Verhältnisse bereit war, nach dem Leben mit all seinen Möglichkeiten zu greifen – und mit grausamer Abruptheit daraus herausgerissen wurde. *****