Als der Onkel stirbt, ist für die Verwandten klar: Die betagte Tante kann nicht mehr allein im großen Haus leben. Die sieht das allerdings anders. Sie will nicht ins Seniorenstift. Und fremde Leute im Haus sieht sie auch nicht gern. Die früher anderen zugewandte Frau ist misstrauisch geworden. Wochenweise umsorgen nun die weit entfernt wohnenden Nichten die alte Dame. Vorerst. Doch lange kann das so nicht weitergehen.
Ähnliche Probleme haben auch andere Angehörige. Was tun, wenn Mutter, Vater oder andere Verwandte den Alltag allein nicht mehr bewältigen können, aber in den eigenen vier Wänden bleiben wollen? Diese Frage dürften sich in den nächsten Jahren immer mehr Menschen stellen.
Nach Berechnungen des Statistischen Bundesamtes könnte die Zahl Pflegebedürftiger allein durch die zunehmende Alterung von bundesweit nun 5 Millionen bis zum Jahr 2055 auf rund 6,8 Millionen steigen - ein Plus von 37 Prozent im Vergleich zum Jahr 2021. In Baden-Württemberg könnte die Zahl bis dahin auf 815.000 und damit verhältnismäßig noch stärker wachsen (plus 51 Prozent). Für 2035 geht die Berechnung hier von 634 000 Pflegebedürftigen aus. Grund ist die Generation der "Babyboomer", die jetzt in Rente geht.
Die meisten wollen zu Hause alt werden
Und die wollen vor allem eins: Auch im hohen Alter nicht ins Heim. 80 bis 90 Prozent wollen zu Hause alt werden, schätzt der Landesseniorenrat Baden-Württemberg. Dieser Wunsch hat Priorität, ergab eine Studie des Deutschen Instituts für angewandte Pflegeforschung in Köln.
Für Angehörige kann das herausfordernd sein. Nicht alle können oder wollen sich um Eltern, Tanten oder Onkel kümmern. Und manche Ältere haben niemanden. Ambulante Pflegedienste können helfen. Doch die pflegerische Versorgung ist nach Angaben des Bundesverbandes privater Anbieter sozialer Dienste schon jetzt vielerorts nicht mehr gesichert.
Nach einer Pflegestudie des Sozialverbandes VdK werden in Baden-Württemberg über 80 Prozent von derzeit rund 55.000 Pflegebedürftigen zu Hause versorgt - vor allem vom Partner, den Töchtern oder Söhnen. Für sie sind neben dem Medizinischen Dienst der Krankenversicherung, der die Pflegebedürftigkeit feststellt, Pflegestützpunkte bei den Landkreisen oft erste Ansprechpartner. Ob Betreuungs- und Pflegedienste, Tages- und Nachtpflege, Senioren-WGs oder finanzielle Unterstützung wie die Hilfe zur Pflege - welche Hilfen es gibt, wissen die wenigsten. Aus Sicht des VdK wäre deshalb mehr Beratung nötig.
Verwandte sind nicht in der Pflicht
"Gänzlich unversorgt sollte keiner in Deutschland bleiben müssen", sagt der Kölner Pflegeprofessor Michael Isfort. Verwandte sind dabei nicht in der Pflicht: "Niemand wird gezwungen, die Pflege für einen Dritten zu übernehmen", betont eine Sprecherin des Landratsamtes Karlsruhe. Die Entscheidung sollte immer freiwillig getroffen werden.
Andererseits muss sich auch niemand helfen lassen. Im Zuge der verfassungsrechtlich geschützten individuellen Freiheit kann jeder selbst entscheiden, ob er Hilfe in Anspruch nimmt, betont ein Sprecher des Stuttgarter Sozialministeriums. Es sei denn, es besteht die Gefahr erheblicher Selbst- oder Fremdgefährdung. Auf der Grundlage könnte mit Genehmigung des Betreuungsgerichts etwa ein schwer Demenzkranker gegen seinen Willen im Pflegeheim untergebracht werden.
Das Recht zu verwahrlosen
Selbstbestimmung schließt Extremfälle ein: "Jeder hat auch das Recht, zu verwahrlosen", sagt Eckart Hammer, der Vorsitzende des Landesseniorenrats. Für Angehörige sei das schwer auszuhalten. Sie müssten aber lernen, sich abzugrenzen und zu schützen.
Tanja Fröhlich, Sozialpädagogin und Leiterin des Pflegestützpunktes Baden-Baden, hat häufiger weinende Angehörige vor sich, die nicht mehr weiter wissen. "Wir versuchen dann, den Druck herauszunehmen und bieten an, mit dem Vater oder der Mutter zu sprechen." Doch selbst wenn das Zuhause zur Messie-Wohnung geworden ist, ist das Sache des Bewohners.
Dass jemand jede Hilfe verweigert, ist nach Beobachtung des Landratsamtes Karlsruhe sehr selten. Seniorenverbandschef Hammer geht aber davon aus, dass sich problematische Fälle angesichts von mehr Älteren häufen werden. Er rät, sich rechtzeitig Gedanken darüber zu machen, wie man im Alter leben will. "Die meisten schieben das zu lange weit von sich."
Bevor die "Babyboomer" in Rente gehen, muss aus Sicht der Vize-Vorständin der Badischen Diakonie, Manuela Striebel-Lugauer, das ambulante Netzwerk der Altenhilfe dringend ausgebaut werden. "Man will Menschen so weit wie möglich auch im Alter eigenbestimmt lassen. Die Grenzen zu finden - das ist die Kunst." Angesichts von zu wenig Pflegepersonal schon heute und absehbar mehr Pflegebedürftigen könnten aus Sicht der Diakonie-Altersexpertin neue Strukturen und verstärkte Hilfe von Angehörigen nötig werden. "Es muss ein gesellschaftliches Umdenken geben, sonst werden wir die Versorgung Pflegebedürftiger nicht sicherstellen können."
(Von Susanne Kupke, dpa)