Frau Schellhammer, immer mehr Menschen widmen sich der Ahnenforschung. Warum ist uns die eigene Herkunft so wichtig?
Barbara Schellhammer: Gerade in einer Zeit, in der die Dinge fraglich werden, brauchen Menschen die Sicherheit der eigenen Identität. Durch Globalisierung und Digitalisierung lösen sich Grenzen für uns auf, da müssen wir uns neu verorten. Wir beginnen, über uns selbst nachzudenken. Die Beschäftigung mit der eigenen Geschichte gibt uns Sicherheit und Orientierung. Wenn wir die nicht haben, wird es schwierig.
Was passiert dann mit uns?
Schellhammer: Wir verhalten uns, wie der Anthropologe Clifford Geertz einmal sagte, wie formlose Monster, ohne Richtungssinn und ohne Befähigung zur Selbstkontrolle. Deshalb brauchen Menschen Kultur, weil wir nicht wie die Tiere durch Instinkte unser Verhalten organisieren, sondern durch Bedeutungssysteme. Brechen wichtige Teile von Identität und Herkunft weg, ist es wichtig, sich auf seine Wurzeln zu besinnen, um eine gute Basis für das Leben zu haben.
Können Sie das an einem Beispiel erklären?
Schellhammer: Ich kann von sehr eindrücklichen Erfahrungen aus meiner Forschung in der Arktis berichten: Mit aller Gewalt hat man versucht, Ureinwohner in den kanadischen Mainstream einzugliedern. Man nahm die Kinder aus Familien der Inuit und steckte sie in Umerziehungsheime. Dort durfte nur Englisch gesprochen werden. Man hat systematisch versucht, die Verbindung zur vermeintlich "primitiven" Herkunft zu unterbrechen, indem man die Sprache unterbunden hat. Im Fall der Inuit ist das ein harter Schritt, denn die Ureinwohner haben eine orale Tradition und keine Schriftstücke, in denen Traditionen und Lebensweisheiten festgehalten sind. Weil die Kinder ihnen genommen wurden, konnten sie traditionelle Praktiken und Philosophie nicht an die nächste Generation weitergeben. Damit hatten die Kinder keinerlei Bezug mehr zu ihrer Herkunft – eher sogar ein schlechtes Bild davon, weil sie sich fortan dafür schämten, Wilde zu sein.
Welche Folgen kann so eine Entwurzelung haben?
Schellhammer: Wenn Menschen keine Verbindung zu ihrer Herkunft mehr haben und haltlos in ein identitäres Loch stürzen, können sie extrem reagieren: Sie klammern sich mit aller Macht an etwas, das ihnen Halt gibt. Immer wieder kommt es zu Formen des Fundamentalismus, aber auch Abhängigkeiten sind möglich. Viktor Frankl sprach von einem „existenziellen Vakuum“ und meinte, Menschen brauchen einen Grund, um glücklich zu sein und nicht das Glücklichsein an sich. Gibt es diesen sinnstiftenden Grund nicht, greifen sie exzessiv nach dem Glücklichsein selbst – häufig stellen sie ein Sinngefühl durch Alkohol oder andere Rauschmittel her, um die Leere zu kompensieren. Aber ohne Grund ist das Glücklichsein nie von langer Dauer – und Menschen greifen immer mehr danach.
Wir sprechen also von Sucht, aber auch Extremismus.
Schellhammer: Genau. Hierzulande ist das zu beobachten, wenn man sich Studien ansieht, welche Jugendlichen zum IS gegangen sind: Viele, die aufgrund ihrer Migrationsgeschichte entwurzelt waren. Aber auch Deutsche aus vermeintlich gut gestellten gesellschaftlichen Kontexten schließen sich extremistischen Gruppen an – das ist frappierend und wohl auch auf ein gewisses Sinnvakuum zurückzuführen. Dieses kompensieren manche Entwurzelte in einer Gegenreaktion mit starken Symbolen, Werten und Moralvorstellungen, die ihnen Sicherheit geben.
Kann auch Rechtsextremismus auf so einem identitären Loch basieren?
Schellhammer: Wer sich durch zu viel Fremdheit bedroht fühlt, bei dem treten Verlustängste um die eigene Kultur in den Vordergrund. Man schottet sich ab, baut Grenzen auf und bewacht sie immer stärker, auch in sich selbst. All das sind für mich Symptome der Entwurzelung. Die Faktoren, die dazu führen, dass Menschen extremistisch werden, sind dabei natürlich immer vielfältig. Aber wenn es um Ängste vor Identitätsverlust geht, ist der Extremismus sicher ein starkes Symptom der Entwurzelung.
Wie lässt sich da gegensteuern?
Schellhammer: Das Paradoxe: Gerade wenn wir die eigenen Wurzeln pflegen, sind wir eher in der Lage, mit Fremdem umzugehen. Um ein gesundes Miteinander zu fördern, ist es ganz wichtig, die eigene Geschichte und die eigene Herkunft zu kennen.
Gibt es auch ein Übermaß an Beschäftigung mit den eigenen Wurzeln?
Schellhammer: Befasst sich jemand fast ausschließlich mit sich und seiner Herkunft, wäre das ein narzisstisches Um-sich-selbst-Kreisen. Das hat oft damit zu tun, dass Menschen ihre Wurzeln verloren haben oder nie die Möglichkeit hatten, in einem wirklich guten Boden zu wurzeln. Das narzisstische Kreisen um sich selbst kann also zum Problem werden. Doch wer sich gar nicht mit sich selbst befasst, dem ist im Umgang mit anderen auch nicht geholfen. Es braucht ein gewisses Gleichgewicht von Selbstsorge und Offenheit für Fremdes, die Extreme an beiden Enden sind problematisch.
Haben wir Einfluss darauf, was wir von unseren Vorfahren mitbekommen? Oder unsere Herkunft vielmehr auf uns?
Schellhammer: Wir werden von vielem gesteuert, was wir nicht selbst in der Hand haben. Da gibt es vieles in unserem Unbewussten – im Positiven, wie im Negativen – wo wir von uns selbst überrascht werden. Vieles können wir nicht rational steuern. Man kann sich persönliche Eigenschaften bewusst anschauen und so auch abändern. Aber letztlich werden wir nie vollständig Herr oder Frau unserer selbst sein. Wie stark die Einflüsse unserer Wurzeln durchschlagen, das kommt immer auf den Kontext an – und darauf, wie wir in der Lage und gewillt sind, uns mit uns selbst auseinanderzusetzen.
Was passiert, wenn wir überhaupt nicht wissen, wo unsere Wurzeln liegen?
Schellhammer: Es gibt viele Kinder, die früh adoptiert wurden und in Familien kamen, in denen sie gut aufwachsen konnten. Da spielt es zwar schon irgendwann eine Rolle, wer die leiblichen Eltern sind, aber nicht so eine existenzielle. Denn Menschen sind nicht einfach nur biologische, sondern vor allem soziale Wesen. Und das kann viel wettmachen. Wenn Kinder aber von einem Kinderheim ins nächste kommen und immer wieder entwurzelt werden, ist es anders. Dann weiß man, dass die psychosoziale Not sich in Verhaltensformen äußern kann, die nicht so zuträglich sind, um wieder in sozialen Kontexten landen zu können. Das ist ein Teufelskreis: Man ist bereits entwurzelt, verhält sich formlos und unkontrolliert und hat es daher umso schwerer, wieder irgendwo Fuß zu fassen.
Wie ist es zu bewerten, wenn Menschen ihre Wurzeln kaschieren? Etwa wegen einer dunklen Vergangenheit...
Schellhammer: Für viele hochbetagte Menschen ist es schwierig, darüber zu sprechen. Sie haben oft schlimme Kriegs- und Vertreibungsgeschichten hinter sich. Doch es ist bemerkenswert, wie stark in der Enkelgeneration das Bedürfnis nach Wissen ist. In vielen Familien gab es in der NS-Zeit Familiengeheimnisse oder Spannungen, weil etwa ein Bruder wichtiger General in der Wehrmacht war, ein anderer als Gutsherr auf seinem Hof Juden versteckt hat. Mit denen, die das miterlebt haben, lässt sich darüber bis heute kaum reden. Aber in den nachfolgenden Generationen flammt das Interesse auf. Sie betreiben etwa Ahnenforschung. Die Wunden sind nicht mehr so offen und junge Menschen stellen heute ganz andere Fragen.
Kann es auch schwierig sein, sich der Familiengeschichte zu stellen?
Schellhammer: Ja. Davon hört man immer wieder, wenn Menschen merken, dass da etwas vorgefallen sein muss und dann feststellen, dass die eigene Familiengeschichte gar nicht so rühmlich ist. Die ehrliche Auseinandersetzung mit der Geschichte der Vorfahren hilft jedoch nicht nur uns selbst, um mit diesen verschwiegenen Geschichten klarzukommen, sondern auch künftigen Nachkommen und der ganzen Gesellschaft.
Lassen sich Spuren der Herkunft auch abstreifen, etwa indem ich bei der Heirat meinen fremd klingenden Namen gegen einen typisch deutschen eintausche?
Schellhammer: So etwas kann man nicht pauschal beantworten. Für manche ist es gut und heilsam zu sagen: Ich bin jetzt in diesem Land, ich bin mit dieser Person verheiratet – und das soll meine neue Heimat sein, da baue ich mir etwas auf. Eine andere Person dagegen besitzt zwar den neuen Namen, fühlt sich damit aber ein Leben lang fremd. Und trauert dem alten Namen und ihrer Herkunft nach, weil sie empfindet, dass etwas verloren gegangen ist. Wichtig ist immer die Auseinandersetzung mit Brüchen und Umbrüchen im Leben – also sich darüber klar zu werden und zu sprechen. Denn auch Namen sind für viele Menschen Heimat.
Zur Person: Barbara Schellhammer ist Kulturphilosophin. Die gebürtige Landsbergerin erhielt als erste Frau eine Professur an der Hochschule für Philosophie in München.
Wer sich in Augsburg auf die Suche nach den eigenen Vorfahren machen will, findet häufig Informationen im Stadtarchiv. Was dort aufbewahrt wird und wie die Beschäftigten dort Hilfestellung leisten können, erfahren Sie im Podcast mit Archivar Mario Felkl, den Sie hier anhören können: