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Interview: Warum reißt Eltern bei der Kindererziehung der Geduldsfaden, Frau Grimm?

Interview

Warum reißt Eltern bei der Kindererziehung der Geduldsfaden, Frau Grimm?

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    Dass Schreien und Schimpfen in der Kindererziehung wenig hilft, wissen die meisten Eltern. Dennoch passiert es hin und wieder.
    Dass Schreien und Schimpfen in der Kindererziehung wenig hilft, wissen die meisten Eltern. Dennoch passiert es hin und wieder. Foto: Bernhard Weizenegger (Symbolbild)

    Frau Grimm, "gottverdammte Scheiße" schoss es Ihnen durch den Kopf, "jetzt hör auf" schrien Sie Ihre Tochter an. Kurz drauf waren Sie entsetzt, wie Sie so ausflippen konnten. Diese Szene beschreiben Sie in Ihrem Buch – was war damals vor sechs Jahren passiert?
    NINA GRIMM: Ich hatte gerade angefangen zu arbeiten als junge Therapeutin in der Psychiatrie. Meine Tochter war anderthalb Jahre alt und sollte zur Tagesmutter gehen.

    Und wollte sich nicht anziehen lassen?
    GRIMM: Ja, es gab jeden Tag ein Riesendrama. Sie war ein richtiges Mama-Kind. Auch ich wollte eigentlich lieber bei ihr bleiben. Gleichzeitig hatte ich extremen Druck von meinem Chefarzt: Um fünf nach acht war Morgenübergabe und es war klar, dass ich da sein muss. Viermal war ich schon zu spät gekommen. Ich hatte Angst, auf der Arbeit zu versagen, aber auch als Mutter.

    Wir wissen, dass wir unsere Kinder nicht anschreien sollen. Trotzdem passiert es. Warum?
    GRIMM: Zum einen stehen Eltern unter extremem Druck11 Mütter über ihren Alltag: "Manchmal fühle ich mich wie gefesselt"Region Augsburg und sind mit vielen Herausforderungen gleichzeitig konfrontiert. Wir sind müde, erschöpft und dreimal zu viel über unsere Grenze gegangen, sodass es natürlich ist, dass wir irgendwann austicken. Zum anderen wird durch das Verhalten des Kindes eine sehr viel ältere Thematik in uns berührt, die uns in alte Verhaltensmuster zurückkatapultiert. Der Sog wird so unfassbar stark, dass wir das Gefühl haben: Es überkommt mich, das bin gar nicht mehr ich, die da spricht.

    Was steckte bei Ihnen hinter der Wut, hinter dem Schreien?
    GRIMM: Bei mir war es das Gefühl: Ich bin nicht gut genug. Ich kann es niemandem recht machen. Ich kann weder meinem Job noch meinem Kind gerecht werden. Weil das potenziell so gefährlich ist für unser System, deckeln wir es mit Wut. Dadurch bekommen wir ein Gefühl der Kontrolle. Meistens sind die Kinder ja zunächst auch still.

    Unser Kind zieht nach wiederholter Aufforderung den Schlafanzug nicht an und triezt jetzt noch das jüngere Geschwisterchen. Wie bewahren wir die Ruhe?
    GRIMM: Zuerst dürfen wir den Anspruch ablegen, dass wir das aus dem Stegreif können müssen. Wir dürfen uns eine Übungsphase schenken. Als Surfanfänger würde man sich auch nicht am Atlantik aufs Brett stellen, wenn die Wellen fünf Meter hoch sind, sondern erst mal Trockenübungen am Strand machen. In der Erziehung gilt das Gleiche: Ich bin müde, mein Kind will den Schlafanzug nicht anziehen – das ist die Fünf-Meter-Welle.

    Was steckt hinter der Wut?
    GRIMM: Durch diese Situation können alte Wunden in uns aufreißen, wir werden selbst wieder zum bockigen, wütenden Kleinkind. Doch was uns einst verletzt hat, ist heute keine wirkliche Bedrohung mehr. Wenn ich dann dastehe und denke: "Kannst du dich nicht mal zusammenreißen, das darf doch nicht wahr sein", dann erzeugt das eine andere Wirklichkeit. Wenn wir uns das bewusst machen, können wir trainieren, das loszulassen. Wir stellen uns vor, diese Scheuklappen zu öffnen, die wir in diesem Moment aufhaben, und blicken mit wachem Blick auf unser Kind. Wir sehen ein Kind, das vielleicht sehr müde ist oder sich benachteiligt fühlt im Vergleich zu dem Geschwisterchen, das so viel Aufmerksamkeit bekommt.

    In einem ruhigen Moment könnte man sich auch grundsätzlichere Gedanken machen, oder?
    GRIMM: Ja, als Eltern sollte man eine Vision entwickeln, wie man als Familie leben möchte, wie man als Mama, als Papa sein möchte. Wie möchte ich solche Stürme begleiten, wenn ich mir die bestmögliche Vision von mir in fünf Jahren ausmale? Wenn wir das draufhaben, dann ist das im Falle einer Streitsituation mit dem Kind eine Sequenz, die wir in drei Sekunden abrufen können.

    Hören Sie sich dazu auch unseren Podcast mit einer Hebamme aus der Reihe "Augsburg, meine Stadt" an:

    Für den Wut-Moment hilft es ja zunächst auch mal tief durchzuatmen, ein Glas Wasser zu trinken oder aus dem Zimmer zu gehen.
    GRIMM: Ja, das sind sogenannte Reiz-Reaktionsketten-Durchbrecher. Viele Eltern haben das Gefühl, sie müssen immer ruhig und nett sein. Ich möchte Eltern von diesem Druck befreien, dass ihre Emotionen nicht sein dürfen. Sie dürfen hilflos, wütend und verzweifelt sein. Der springende Punkt ist, wie sie es kindgerecht kommunizieren.

    Wie geht das?
    GRIMM: Ich lasse mein Kind an meinem inneren Monolog teilnehmen: "Ich bin kurz davor, dass mir der Geduldsfaden reißt, ich bin so wütend, dass ihr nicht hört. Ich gehe kurz auf den Balkon und dann machen wir noch mal einen Anlauf."

    Das Anschreien fühlt sich schlimm an. Reicht es, wenn wir uns bei dem Kind entschuldigen, oder wie klappt es mit dem Versöhnen?
    GRIMM: Erst mal sollten wir uns selbst mitfühlend begegnen und überlegen, was da gerade mit uns passiert ist und uns dann bei unseren Kindern entschuldigen: "Ich war unter Druck, das hatte nichts mit euch zu tun."

    Kinder müssen auch verstehen, dass manches nicht geht. Wie geht man mit Konsequenzen um?
    GRIMM: Vor fünf Jahren hätte ich gesagt, dass Konsequenzen in Watte gepackte Strafen sind. Als Mutter von älteren Kindern denke ich anders. Bei einer Siebenjährigen ist es angemessen, authentische Konsequenzen zu fordern. Meiner Tochter, die immer so viel Wut in sich hatte, sagte ich: Das macht mich traurig. Ich habe dir mehrmals Alternativen angeboten, mit der Wut umzugehen und du hältst dich nicht dran. Du bist besonders jähzornig, wenn du lange unterwegs warst. Wir setzen jetzt mal die Verabredungen nach der Schule aus und schauen, wie es dir damit geht.

    Zur Person

    Nina C. Grimm ist Mutter, Wissenschaftlerin, Psychologin und Psychologische Psychotherapeutin in Weiterbildung. In ihrem Buch "Hätte, müsste, sollte: Bedürfnisorientierung im Familienalltag wirklich leben" gibt sie Tipps, wie Erziehung authentisch und ohne Druck gelingen kann.

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