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11 Jahre Tinder: Interview mit Sozialpsychologin Johanna Degen

Interview

"Es gibt viele, die sagen, Tinder oder Dating-Apps seien – platt gesagt – richtig scheiße"

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    Die Sozialpsychologin Johanna Degen plädiert beim Onlinedating für mehr Wertschätzung und dafür, sich selbst zu hinterfragen.
    Die Sozialpsychologin Johanna Degen plädiert beim Onlinedating für mehr Wertschätzung und dafür, sich selbst zu hinterfragen. Foto: Kath Konopka

    Frau Degen, mehr als die Hälfte der Paare in Deutschland lernt sich online kennen. Ziemlich oberflächlich, jemanden direkt auszusortieren, wenn das Foto nicht ganz passt. 
    JOHANNA DEGEN: Es ist so, dass das inzwischen einfach der Hauptort ist, wo man sich trifft, und dass wir das Gefühl haben, woanders würde es nicht mehr klappen. Der öffentliche Raum hat sich so verengt, dass wir nicht mehr gut in Kontakt kommen. Und wir ziehen uns dann in vermeintlich sichere Sphären zurück. Das ist natürlich oberflächlich, weil wir uns sehr schnell und nur aufgrund des visuellen Eindrucks entscheiden. Und weil die Kommunikation asynchron ist. Das ist eine gestellte Szene. Man wählt ein spezifisches Bild von sich aus, bearbeitet es häufig noch und überlegt, wie der Text im Profil aussehen soll. Das ist ganz weit weg von einer spontanen Reaktion. 

    Welche Auswirkungen hat das?
    DEGEN: Wir versuchen über eine quantitative Logik den Zufall unter Kontrolle zu bringen. Indem wir uns durch so viele Profile wie möglich wischen. Verliebtheit lebt aber vor allem auch von Spontanität und dafür haben wir heutzutage wenig Zeit. Wir wollen alles im Griff haben; wollen sicher sein, dass wir jemanden finden; wollen am Freitagabend nicht allein aufs Konzert. Aber die Liebe entzieht sich, wenn wir versuchen, sie unter Kontrolle zu bringen. Die Liebe fällt nicht dorthin, wo wir es gerne hätten. Selbst dann nicht, wenn man ganz viel unternimmt, um sich zu verlieben. Wenn man alles auf Knopfdruck und geplant macht, verschwindet die Spannung. Und dann geht auch der Spaß verloren. Es gibt viele, die sagen, Tinder oder Dating-Apps seien – platt gesagt – richtig scheiße.

    So verpönt und dennoch nutzen viele Menschen Tinder beziehungsweise andere Dating-Apps.
    DEGEN: Ja, das ist widersprüchlich. Aber es passt in unser Leben rein, ist einfach und wir denken, es sei alternativlos. Viele vermissen das Offlinedating. Wenn man die Menschen fragt, worauf sie beim Kennenlernen hoffen, sagen sie aber: auf eine bessere App. Tinder hatte Einbrüche in den Nutzerzahlen, weil andere Apps inzwischen Konkurrenz machen. Aber Onlinedating im Allgemeinen hält sich. Ich sehe nicht, dass Offlinedating vorläufig ein Revival haben wird. Auch deshalb nicht, weil es eine niedrigschwellige Möglichkeit bietet, um Verletzungen zu kompensieren. Man kann sich in Sekundenschnelle Komplimente holen und den eigenen Marktwert checken. Es gibt theoretisch um jede Ecke eine lockende Option. Auch für Menschen, die in ihrer Partnerschaft unglücklich sind. Wir neigen dazu, von Beziehungen zu erwarten, permanent ein angenehmer Ausgleich zum oft anstrengenden Leben zu sein. Aber das sind sie nach der Verliebtheitsphase einfach nicht. 

    Auf Tinder zählen vor allem die Fotos. Der Text interessiert nachweislich zunächst kaum jemanden. Stereotypisch wird Männern nachgesagt, visueller veranlagt zu sein als Frauen. Ist Tinder eher eine App für Männer?
    DEGEN: Das ist eine schöne Frage, darüber habe ich noch nie nachgedacht. Es ist auf jeden Fall so, dass Männer es beim Onlinedating bis etwa zur Lebensmitte schwerer haben als Frauen. Die oberen zehn Prozent – die Reichen und Schönen – die haben es dort lustig. Eine kleine Gruppe von Männern hat dort die Zeit ihres Lebens. Aber viele Männer werden dort auch sehr verletzt. Manche haben deutlich weniger Matches, als Frauen sich das vorstellen können. Sie haben sich mit einer romantischen Absicht angemeldet, schreiben einer Frau und sie antwortet direkt: "Schick mir bloß kein Penisbild" oder "Hässliche Haare!". Das ist schon hart, was die Menschen sich auf Tinder zum Teil antun – Männer wie Frauen. Auch viele Männer sind dort grauenhaft. Es passiert ganz viel Abwertung zwischen den Geschlechtern und die Tonalität ist meist sehr rau. 

    Was sind die Gründe dafür?
    DEGEN: So wie wir anfangen online zu daten, so daten wir nach sechs Wochen nicht mehr. Häufig gehen wir hoffnungsvoll und höflich rein. Wenn wir aber geghostet werden, ständig unverschämte Nachrichten bekommen, dann passen wir uns an und werden selbst härter im Ton. Wir merken: Wir sind austauschbar wie ein Produkt, stecken dann in einer negativen Dynamik fest, fühlen uns verletzt und nicht wertgeschätzt. Fehlende Anerkennung ist so gut wie immer das Grundproblem. Und dann sanktionieren wir das Gegenüber. Zwischendrin sind schon immer wieder auch tolle Nachrichten dabei. Aber die nehmen wir gar nicht mehr wirklich wahr. Das nenne ich immer den negativen Zirkel des Onlinedatings. So ist es schwer, mit weichem Herzen und offenem Visier in eine Beziehung zu laufen. Aber das bräuchte es. 

    Fotos von gestylten Frauen und muskelbepackten Männern. Dating-Apps wie Tinder bedienen und reproduzieren häufig Geschlechterstereotype.
    DEGEN: Absolut. Häufig sind das sogar sehr alte Stereotype. Frauen werden oft beispielsweise sehr stark für sexuelle Aktivität abgewertet, und wenn sie mehrere Männer parallel daten. Und bei Männern ist es häufig die Potenz, auf der herumgehackt wird. Oder sie werden als emotional verarmt oder gefährlich angesehen. Wir haben auf Tinder häufig eine krasse Moralisierung. So kann keine Annäherung stattfinden. 

    Wie lässt sich das ändern? 
    DEGEN: Indem wir uns überlegen, wo wir dem anderen mal mehr entgegenbringen könnten. Mehr Aufmerksamkeit, mehr Wertschätzung, mehr Interesse. Wir fragen uns meist: Gebe ich zu viel? Bekomme ich überhaupt genug? Wir schauen häufig, wie wir möglichst wenig auf die Nuss kriegen, aber fragen uns nicht: "Wie wertschätzend war ich heute eigentlich beim Onlinedating?"

    Wann kann Onlinedating auch eine Chance sein?
    DEGEN: Wenn man es so nutzt, dass es einem guttut und nicht wahllos. Dann kann man auch jemanden finden, mit dem die Kompatibilität hoch ist. Es gibt auch viele marginalisierte Gruppen, die sich ohne Onlinedating gar nicht treffen könnten. Homosexuelle oder transidentitäre Menschen zum Beispiel haben mitunter Vorteile. In Berlin-Mitte mag es für sie vielleicht leichter sein, ein passendes Gegenüber zu finden. Aber das kann man nicht verallgemeinern. Auch Alleinerziehende können es online einfacher haben. 

    Unterscheiden sich Beziehungen, die über Onlinedating zustande gekommen sind, von jenen, bei denen die Kontaktanbahnung offline stattgefunden hat?
    DEGEN: Wir dachten immer, es müsse einen Unterschied geben. Das ist aber nicht so. Was wir stattdessen herausgefunden haben: Unsere Kultur und Beziehungskultur haben sich parallel verändert. Selbst die Menschen, die nicht online daten, führen eine andere Art von Beziehungen. Denn die verbreitete Unverbindlichkeit trifft nicht nur auf Onlinedating zu, sondern auf alle Beziehungen. Sei es in Freundschaften oder gegenüber dem Arbeitgeber. 

    Sie sind über Ihre eigenen Erfahrungen mit Tinder dazu gekommen, darüber zu forschen. Unter Studierenden sind Sie auch als "Dr. Tinder" bekannt. Ihre Tipps für erfolgreiches Onlinedating?
    DEGEN: Ich rate zu einem offensiven Umgang damit, wie man ist und was man sich wünscht, statt sich ständig zu optimieren und ins rechte Licht zu rücken. Viele bleiben zu sehr in der Erwartungshaltung des anderen stecken und halten relativ viel davon zurück, was sie eigentlich wollen. Das finde ich sehr schade. In der Hoffnung auf Anerkennung und Nähe versuchen viele zum Beispiel, sich sexuell locker zu geben. Wenn das tatsächlich so ist, passt das ja. Aber wenn man die Hoffnung hat, dass sich dadurch etwas Festes entwickelt, kann es schwierig werden. Das kann funktionieren, sehr oft geht es aber nach hinten los. Und wer verletzt wird, der tindert häufig noch mehr. Allem voran würde ich raten, nicht nur online zu daten. Sich auch im öffentlichen Raum engagieren: Nicht nur aufs Handy starren, Offenheit transportieren, sich ansprechbar machen und dem Gegenüber in die Augen schauen. Und wenn man Dating-Apps dann trotzdem nutzt? Why not, no shame, honey! 

    Zur Person

    Johanna Degen, 37, ist Sozialpsychologin und leitet seit 2019 das Forschungsprojekt "Tinder. Profiling the self" an der Europa-Universität Flensburg. Es befasst sich unter anderem damit, wie sich Beziehungen im Kontext von Onlinedating anbahnen. Außerdem arbeitet sie als Paartherapeutin. Ihre Studierenden nennen sie auch "Dr. Tinder". 

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