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Mertingen: Zwischen Angst und Hoffnung: Sie wollen zurück und die Ukraine wieder aufbauen

Mertingen

Zwischen Angst und Hoffnung: Sie wollen zurück und die Ukraine wieder aufbauen

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    Ruslan steht mit seiner Familie und den Kindern eines Freundes vor der Minifichte, die ihr Christbaum ist.
    Ruslan steht mit seiner Familie und den Kindern eines Freundes vor der Minifichte, die ihr Christbaum ist. Foto: Ulrike Hampp-Weigand

    "Dieser Krieg wird im Sommer enden – mit einem Sieg der Ukraine. Hundertprozentig. Und dann können wir zurück nach Hause". Davon sind viele die es auf der Flucht in den Landkreis Donau-Ries verschlagen hat. Das ist kein Zweckoptimismus, das ist Überzeugung. 16,5 Millionen Ukrainer sind aus der Heimat geflohen,rund 1,05 Millionen sind in Deutschland registriert, in Bayern sind es rund 150.000. 73 Prozent der Geflüchteten sollen einen Hochschulabschluss haben, 37 Prozent möchten langfristig in

    Einige von ihnen hat es nach Mertingen verschlagen. Dies ist ihre Geschichte: Olha, Buchhalterin aus Kiew, Mutter zweier Töchter, glaubt mit Inbrunst an den Sieg der Ukraine. Mann und Vater, beide Rentner, sind in der Ukraine, müssen nicht kämpfen, halten die Stellung. Mutter Nina ist für ein paar Tage in die Ukraine gefahren, nach Wohnung, Datscha, Garten, und den Männern zu sehen, und um wieder vorzukochen. Die vier Frauen sind nicht freiwillig gegangen. Am 26. Februar hat das ukrainische Militär die Zivilbevölkerung aus dem Viertel – sie wohnen 10 Kilometer von Butscha entfernt – in Schutzkeller gescheucht, von dort flohen sie auf ein Dorf, die Heimat der Schwiegereltern, von dort in die Westukraine, und dann über Rumänien, Ungarn und Österreich nach Donauwörth – zunächst in die Staufferhalle. 

    "Ich hätte nie gedacht, dass man so freundlich empfangen wird – wie Verwandte"

    Nach 40 Tagen entschlossen sie sich, ins schwäbische Mertingen zu ziehen und sind dankbar für den herzlichen Empfang. "Ich hätte nie gedacht, dass man so freundlich, wie Verwandte, empfangen wird. Wir haben es gut getroffen". Alina, 16 Jahre, Schülerin in der "Ukrainerklasse" der Berufsschule, mag ihre Mitschülerinnen und Mitschüler, auch ihre ukrainische Lehrerin. Und sie mag die Gemeinde Mertingen.

    Sie bezeichnet sich und ihre Familie als "Stubenhocker", auch schon in Kiew. Sie lerne, und ansonsten gehe sie gern und lang spazieren. Alina spricht schon gut deutsch, versteht viel und dolmetscht für ihre Mutter und die kleine Schwester Oksana, die die erste Klasse besucht. Oksana vermisst die Heimat mehr – dort im Kindergarten hatte sie Freundinnen, die sie hier noch nicht gefunden hat. Aber sie mag ihre Schule, die nachmittägliche Hilfe bei ihren Hausaufgaben. 

    
Natalia (von rechts), Nadiia, Anisa und Artem denken oft in Sorge an ihre Heimat. Auch Toyterrier Sonia gehört mit zur Familie.
    Natalia (von rechts), Nadiia, Anisa und Artem denken oft in Sorge an ihre Heimat. Auch Toyterrier Sonia gehört mit zur Familie. Foto: Ulrike Hampp-weigand

    Alle wollen zurück in die Heimat. Alina will – per Fernunterricht – in der Ukraine die 11. Klasse absolvieren, dann Design/Innenarchitektur studieren. Das ist ihr Traum. Mutter Olha lacht und schüttelt den Kopf – diese Diskussion wurde auch schon in der Heimat geführt. Olha selbst weiß nicht, ob sie die alten Freundschaften wiederfinden wird. Gerade von Familien mit kämpfenden Männern und Söhnen wird ihr die Flucht vorgeworfen. Kontakte bestehen ja, aber wenn das Gespräch darauf komme, schweige sie. 

    Sie wachen mit Nachrichten auf und gehen mit ihnen zu Bett

    Wie alle Ukrainer wacht sie morgens mit den Nachrichten auf und geht mit ihnen zu Bett. Informationsquellen wie Telegram und Kjiv news sind ihre Nabelschnur. Sie zeigt Bilder von den täglichen Angriffen in Kiew, Treffer der Shahed Drohnen, brennende Häuser. Sie lebe von Tag zu Tag, verbiete sich, Negatives zu denken. Anfang Januar wird sie den Integrationskurs beginnen, um mehr Deutsch zu lernen. Sprachkenntnisse hat sie sich schon ein paar erworben mit den anderen im Ort wohnenden Ukrainern im Kurs von Margot Rienermann. 

    Sie weiß, dass ihre Gedanken und Gefühle quasi doppelgleisig fahren – auch wenn sie unstillbare Sehnsucht nach der Heimat hat, so sagt ihr der Verstand doch, dass sie sich auch auf ein Worst-Case-Szenario einstellen muss. Sie weiß, dass sie für qualifizierte Arbeit Sprachkenntnisse braucht und hat, um ein wenig Geld nach Hause schicken zu können, eine Putzstelle angenommen. 

    Ruslan, gelernter Koch und Masseur, der aus dem Donbass stammt, hat Haus und Heim verloren. Seine Frau Viktoria und Sohn Vadim, ihre Schwester und deren Kind lebten im Haus in Svjatogorsk, versteckten sich im Keller. Erst mit dem Rückzug der ukrainischen Truppen konnte er sie zur Flucht überreden. Sie kamen über Rumänien und Ungarn nach Tschechien, lebten und arbeiteten dort. Ruslan floh erst, nachdem die Russen gekommen waren – über Russland, Litauen, Lettland,

    
Irina freut sich über ihren Christbaum, den ihr jemand geschenkt hat, um ihr eine Weihnachtsfreude zu machen.
    Irina freut sich über ihren Christbaum, den ihr jemand geschenkt hat, um ihr eine Weihnachtsfreude zu machen. Foto: Ulrike Hampp-weigand

    Viktoria, gelernte Betriebswirtin, möchte am liebsten sofort zu arbeiten beginnen, und schluckt schwer beim Gedanken an die fehlenden Sprachkenntnisse. Jetzt nutzen sie die Weihnachtsferien, um deutsche Vokabeln zu lernen, Vater Ruslan hilft dabei, da er gerade im Integrationskurs ist. Er will arbeiten, Geld verdienen und sparen, um sich nach der Rückkehr einen Traum zu erfüllen: ein Lebensmittelgeschäft zu eröffnen. In seiner Heimatstadt Svjatogorsk ist alles zerstört. Eine Rückkehr jetzt wäre – angesichts der Kämpfe ringsum – viel zu gefährlich. Ruslans alte Eltern leben noch dort, ihr Haus ist noch intakt, sie können sich an einem kleinen elektrischen Ofen wärmen. 

    Jeden Tage erleben sie Todesängste um ihre Familie in der Heimat

    Auch Vadim will am liebsten so schnell wie möglich zurück. Wie seine Tante Irina, die mit ihrem Sohn Yehor, Freundin Lilija und deren Sohn Vladik, aus Charkiv gekommen, zusammen wohnt. Die beiden stehen jeden Tag Todesängste um die älteren Söhne, um die Lebensgefährten aus, die in der Ukraine sind. Die Männer dort müssen ständig mit ihren Einberufungen rechnen. 

    Lilija, gelernte Köchin, arbeitet wegen der fehlenden Sprachkenntnisse als Küchenhelferin. Universitätsabsolventin Irina hat als Maklerin gearbeitet – sie wird einen Integrationskurs besuchen, um Arbeit zu finden, und putzt derweilen, um die Unterstützung ein wenig aufzubessern. Die Kinder stehen in Kontakt mit ihren ukrainischen Schulfreunden, die überall verstreut leben, und lernen, um den ukrainischen Schulabschluss, eine Perspektive nach der ersehnten Rückkehr in die Ukraine zu erlangen. Sie haben trotz des Schulbesuchs bisher keine deutschen Freunde. Ihre bisher erworbenen Deutsch-Kenntnisse sind eher gering. Und sie trauen sich nicht mehr, Hoffnungen in ihre Zukunft zu haben. 

    Noch eine "Zwangsgemeinschaft" gibt es im Ort: Natalia, eine Köchin aus Charkiv, mit einem neuen Job im Seniorenheim, ist mit ihrer Mutter Anisa geflohen, und die junge Nadiia mit Mann, Sohn und Schwiegermutter. Sie alle arbeiten, versuchen mit Minijobs Geld zu verdienen, damit sie sich hier oder in der Ukraine wieder eine Existenz aufbauen können. Natalia ist glücklich, dass sie mit ihrem Verdienst ihre Wohnung in

    Nadia will sich ihren Traum von einer Konditorei erfüllen – in Deutschland oder zu Hause

    Anisa fürchtet sich vor den Rechnungen für ihre kleine Wohnung, die auf sie in der Ukraine warten werden, für Miete, Heizung und Energie. Als Rentnerin bezieht sie Hartz-IV-Leistungen, sie weiß nicht, wie sie alles bezahlen soll. Nadiia hofft, sich entweder in Deutschland, oder noch lieber in der Ukraine, ihren Traum von einer kleinen Konditorei erfüllen zu können, wo sie ihre Freude am Kuchenbacken ausleben kann. Dafür arbeitet sie, und lernt gleichzeitig Deutsch.

    Es sind liebenswerte Menschen, die hierhergekommen sind. Menschen mit Ängsten, Hoffnungen, Träumen, Wünschen und Sehnsüchten, auch mit ihren Traumata aus Flucht und Terror. Sie wollen arbeiten nach ihren Fähigkeiten und Möglichkeiten. Sie empfinden die deutsche Bürokratie als erstaunlich, beispielsweise, dass es so schwer sei, einen Arzttermin zu bekommen. Sie wundern sich, dass in Deutschland die Menschen nicht wie in der Ukraine sich ständig im Freien aufhalten, in Parks, in den Wäldern spazieren gehen, sondern oft zu Hause sind. Sie sind froh, auf eine so hilfsbereite Gemeinschaft getroffen zu sein. Und sie sind erstaunt, dass Menschen sie so oft anlächeln. 

    Sind unendlich dankbar. Hoffen auf Frieden für ihr geschundenes Land, auf ihre Rückkehr: Weil sie ihre Heimat Ukraine wieder aufbauen helfen wollen.

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