Über 300 Mal hat eine 70-Jährige immer wieder zum Telefon gegriffen und grundlos bei der Polizei angerufen – unter anderem, um sie aufzufordern, Bier zu liefern. 16 Mal stand sie deswegen vor Gericht, doch auch danach machte sie weiter. Ironie des Schicksals: Das einzige Mal, als sie wirklich dringend Hilfe gebraucht hätte, fand sie ihr Handy nicht, um die 110 oder 112 anzurufen. In dieser Nacht verblutete ihr Ehemann. Sie hatte ihm ein Messer in den rechten Arm gerammt. Der 71-Jährige starb in den Morgenstunden des 5. November 2020.
Seit Dienstag muss sich die 70-Jährige vor dem Landgericht Augsburg für diese Tat verantworten – angeklagt wegen Totschlags. Da bei der Frau von erheblich verminderter Steuerungsfähigkeit auszugehen ist, wird die Staatsanwaltschaft deren Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus beantragen. Die Frau gilt als gemeingefährlich, so Staatsanwalt Benjamin Junghans.
Frau ersticht Ehemann in Sulzdorf: Prozess beginnt mit Aussagen der Angeklagten
Am ersten Verhandlungstag wurden die Ereignisse der Tatnacht aus Sicht der Angeklagten und erster Zeugen rekonstruiert. Man darf davon ausgehen, dass der Umgangston unter den Eheleuten seit Jahren ein rauer war. So erzählte die Angeklagte, die körperlich einen eher gebrechlichen Eindruck macht, sie habe Angst vor ihrem Mann gehabt, der ihr ein paar Tage vor der Tat gesagt habe: "Ich bring dich um!"
Bei ihrer Aussage vor Gericht schweifte sie in ihre Erinnerungen ab, wirkte emotional bewegt. Nach ihrem Familienstand gefragt, gab sie zu Protokoll: "Verwitwet. Leider!"
Als es zur Bluttat kam, lebte das Ehepaar erst rund sechs Wochen in einer Wohnung eines Mehrfamilienhauses im Kaisheimer Ortsteil Sulzdorf. Doch hatte es in dieser kurzen Zeit schon bei den Mitbewohnern Eindruck hinterlassen. Eine Nachbarin schilderte: "Seit die beiden eingezogen waren, gab es immer Ärger und Streit. Nächtelang war es richtig laut und die Polizei musste öfter wegen Ruhestörung kommen." Während die Zeugin den gehbehinderten Mann als eher ruhig schilderte – er sei mit seinem Rollator im Flur auf- und abgegangen – war nach ihren Aussagen eher die Frau die Aggressive. "Sie hat oft gelallt und hat nach Alkohol gefragt", schilderte sie.
In der Nacht zum 5. November 2020 eskalierte die Situation. Wie die Angeklagte beschrieb, habe sie sich zum Ausruhen in der Abstellkammer auf eine Matratze gelegt. Daraufhin sei ihr Ehemann mit dem Rollator hereingekommen und über ihre Medikamente gefahren. Dann habe es Streit um das Telefon gegeben. Sie habe es gesucht, aber nicht gefunden. Später erfuhr die Frau aus den Polizeiakten, dass es unter einem Kissen versteckt gewesen sei.
Die Auseinandersetzung verlagerte sich ins Wohnzimmer. Wie genau sich das weitere Geschehen abgespielt hat, ist nicht eindeutig klar. Die Angeklagte erzählte von einem Schlag auf den Hinterkopf, den sie von ihrem Mann erhalten habe. Auch habe der sie an den Haaren gezogen. Daraufhin habe sie sich ein Messer von der Küchenzeile gegriffen, damit herumgefuchtelt und gesagt: "Bitte geh zurück." Sie habe Angst vor ihm gehabt.
Der tödliche Stich sei ein Versehen gewesen, sagt die Angeklagte
Den tödlichen Stich mit dem Messer stellte die Angeklagte als Versehen dar. Er sei keine gezielte Attacke gewesen und schon gar nicht habe sie ihn verletzen wollen. Vielmehr sei sie ins Wanken gekommen und über den Rollator gestürzt, der zwischen ihr und dem Ehemann gestanden habe. "Im Fallen bin ich mit dem Messer versehentlich an seinen Arm gekommen." Bei der Polizei allerdings hatte sie zu Protokoll gegeben: "Ich hab neig'schtocha."
Dann war da plötzlich das viele Blut. "Ich hab' immer gedacht: Muttergottes, hoffentlich kann man ihn noch retten." Als die Frau nichts fand, um die Wunde abzubinden, als sie auch das Telefon nicht entdecken konnte, um den Notruf abzusetzen, lief sie nach draußen, um Hilfe zu holen. Auf der Straße wollte sie ein Auto aufhalten, doch es sei keines gekommen. Im Haus selbst habe sie an allen möglichen Türen geklingelt und laut um Hilfe geschrien.
Auch bei der direkten Nachbarin läutete sie. Die war ohnehin seit Stunden wach, wie sie schilderte. Lautstarkes Geschrei, Türenknallen und Schläge hielten sie damals vom Schlaf ab. "Um 23 Uhr ging es los", so die Nachbarin, "dann wurde es unerträglich." Gegen 2.45 Uhr rief sie schließlich die Polizei.
Die Ehefrau machte auf eine Zeugin einen verwirrten Eindruck
Auch selbst sah sie in der Wohnung des Ehepaares nach dem Rechten, doch die jetzt Angeklagte habe nichts von einer Notlage gesagt. "Die Frau machte einen sehr verwirrten Eindruck, redete über Atome und Kernteilung und ich dachte mir: Die ist total zu." Blut nahm sie beim flüchtigen Blick ins Wohnzimmer nicht wahr, wohl aber erkannte sie, dass es dem Ehemann nicht gut ging: "Er saß im Unterhemd auf dem Sofa, war sehr weiß und sehr ruhig."
Die eintreffende Polizei und auch der Notarzt konnten nichts mehr für den 71-Jährigen tun. Vorsitzender Richter Roland Christiani sprach davon, die Angeklagte habe ihren Mann "ausbluten lassen". Eine Polizistin sagte im Zeugenstand: "Er saß in unnatürlicher Position, seine Hautfarbe war nicht wie bei einem Lebenden und unter seinem Arm war eine Bettdecke, die sich mit Blut vollgesogen hatte." Das Gericht hat insgesamt elf Verhandlungstage angesetzt. Der Prozess wird am Dienstag, 21. März, um 10 Uhr fortgesetzt.