"Polizeinotruf, was kann ich für Sie tun?" - Die Stimme des Beamten, der sich am Telefon meldet, dringt leise, aber gut verständlich durch den Sitzungssaal 101 des Landgerichts Augsburg. Dort wird eine Bandaufnahme abgespielt. Völlig wirr wirken die Wortfetzen der Anruferin. Sie nuschelt, spricht wenig zusammenhängend, dann wieder schreit sie. Was damals noch niemand weiß - während die Frau versucht, sich mitzuteilen, verblutet unweit von ihr der Ehemann. Deshalb steht die 70-Jährige jetzt vor dem Landgericht Augsburg.
Als sich die Prozessbeteiligten die Aufnahmen der Notrufe anhören, ist es mucksmäuschenstill im Gerichtssaal. Dennoch ist der Sinn dessen, was die Anruferin will, praktisch nicht verständlich. Diese Anruferin ist die 70-jährige Frau aus Sulzdorf, die in der Nacht zum 5. November 2020 ihren 71 Jahre alten Mann in der gemeinsamen Wohnung mit einem Küchenmesser tödlich verletzt hat. Sieben Mal hat sie in dieser Nacht zwischen 23.58 Uhr und 0.46 Uhr die 110 oder 112 gewählt. In dieser Zeit verblutete ihr Ehemann neben ihr oder war bereits tot.
Was sie der Polizei in diesen Telefonaten nicht sagt, ist der dringende Grund ihrer Anrufe. Sie erzählt nicht von dieser Messerattacke und bittet nicht um Hilfe. Der Polizist am Apparat empfiehlt ihr schließlich angesichts ihrer offensichtlich verwirrten Verfassung freundlich: "Wie wär's, wenn Sie jetzt ins Bett gehen."
Die Anruferin aus Sulzdorf hatte schon über 300 Mal den Notruf missbraucht
Seit Langem schon ist die Anruferin polizeibekannt und von der Justiz mehrfach geahndet wegen Missbrauchs von Notrufen. Über 300 Mal hat sie grundlos die 110 oder 112 gewählt. Erst später wird klar, dass es in der Nacht zum 5. November 2020 zum ersten Mal einen wirklich triftigen Grund gegeben hat. Dann nämlich, als die Polizei - alarmiert durch eine Nachbarin - in die Sulzdorfer Wohnung kommt und dort den Leichnam des Mannes findet.
Ein Polizist, der gegen 4 Uhr am Tatort war, erinnert sich: "Die Ehefrau hat völlig wirres Zeug geredet. Ich konnte keine Schlüsse daraus ziehen. Da gab es keine strukturierten Zusammenhänge." Auch gegenüber der Nachbarin hatte die Verwirrte in dieser Nacht schon von Atomen und Kernteilung gesprochen. Einem anderen Zeugen gegenüber sagte sie: "Uran löst sich in Salz auf."
In der Wohnung saß der Tote auf dem Sofa, leicht zur Seite geneigt, in einer Blutlache mit rund 60 Zentimetern Durchmesser. Wie Zeugen am Montag, dem zweiten Prozesstag, beschrieben, gab es an mehreren Stellen im Wohnzimmer Blutspritzer, die Polster der Couch allerdings waren stark mit Blut durchtränkt. Am rechten Oberarm des Mannes klaffte eine 3,5 Zentimeter breite, dreieckige Stichwunde. An einem Auge und auf dem Nasenrücken hatte der 71-Jährige blaue Hämatome.
Die Eheleute waren erst vor einigen Wochen in das Mehrfamilienhaus gezogen und am Tattag zeigten sich für die Ermittler noch deutliche Spuren des Umzugs. Überall standen Kisten herum, die Wohnung wird als spartanisch eingerichtet beschrieben. "Für mich hatte es den Eindruck, man lebt aus Umzugskartons", schildert ein Polizist. Darüber hinaus fiel ihm unter anderem "ein Sammelsurium an Medikamenten" auf wie auch das Tatmesser auf einem Sideboard - es ist 23,5 Zentimeter lang, hat eine Klingenlänge von 13 Zentimetern und eine Klingenbreite von bis zu zwei Zentimetern.
Die Frau machte auf dem Weg zur Kripo nach Dillingen einen alkoholisierten Eindruck
Eine Polizistin brachte die damals dringend Tatverdächtige am 5. November gegen 5.45 Uhr zur Kripo nach Dillingen. Auf der Fahrt dorthin habe sich die Frau verteidigt, schildert die Beamtin. "Sie sagte, ihr Mann habe sie angegriffen und sie habe sich wehren müssen." Die Sulzdorferin machte den Eindruck, als sei sie alkoholisiert und habe etwas zu sich genommen. "Ihre Sprache war undeutlich, aber auf mich wirkte sie nicht emotional auffällig."
Für das Gericht gilt es vorrangig die Frage zu klären, ob die Angeklagte im Zustand verminderter Schuld ihren Ehemann verletzt hat und ihn verbluten ließ. Diese Vermutung ist naheliegend, da die Frau in der Vergangenheit bereits wiederholt verhaltensauffällig und in geschlossenen Einrichtungen wie auch Akutkliniken wegen Alkoholmissbrauchs untergebracht war. In einem Gutachten aus dem Jahr 2019, das vor Gericht verlesen wurde, wurde der Frau unter anderem eine geistig-seelische Behinderung attestiert wie auch Suchterkrankung, Persönlichkeits- und Verhaltensstörung infolge von Alkoholmissbrauchs. Eine hirnorganische Wesensveränderung liege vor. - Der Prozess wird am 4. April um 10 Uhr fortgesetzt.